Ein Gastbeitrag von Luke Williams, Head of Customer Experience, Qualtrics
2017 ereignete sich ein Vorfall, der in den Medien die große Runde machte: ein Flugpassagier wollte trotz Aufforderung der Flugbegleiter seinen Sitzplatz in dem überbuchten Flugzeug nicht freigeben. Nach einigen Diskussionen wurde er schließlich gewaltsam aus dem Flugzeug gezerrt.
Rasch verbreitete sich die Geschichte, garniert mit Videos und Bildern, auf allen erdenklichen Plattformen. Die Aktie der Fluggesellschaft brach ein, das Unternehmen verlor über Nacht fast eine Milliarde Dollar an Wert. Wenn man bedenkt, wie unsere Welt funktioniert, sind diese Folgen verständlich. Die Auswirkungen waren so katastrophal, dass es schien, als ob die Fluglinie dem Untergang geweiht wäre. Doch einige Monate später hatte sich der Aktienwert der Fluggesellschaft nicht nur erholt – er war sogar zehn Prozent höher als vor dem Skandal. Zwar kursierten einige Monate lang Medienberichte und Internet-Memes, doch der Vorfall hatte praktisch keinerlei finanzielle Folgen für das Unternehmen. Aber was genau wendete das Blatt zum Guten? Kluge PR-Arbeit, cleveres Branding? Einsichtige neue Führungskräfte? Hatte der Markt negatives – und potenziell kriminelles – Verhalten belohnt? Nein: Dieses Debakel ist nur ein weiterer Beweis dafür, dass grobe Fehler nicht so schlimme Folgen haben wie gemeinhin angenommen.
Wie unsere Wahrnehmung funktioniert
Menschen sind sehr gut darin, Muster zu erkennen. Unbewusst suchen wir, wo wir gehen und stehen, systematisch nach Mustern. Wenn wir eine Abweichung im Pattern entdecken, erregt sie unsere Aufmerksamkeit. Wir beobachten und analysieren die Abweichung und lassen sie schließlich einfach fallen – es sei denn, sie wird zur Regel und somit Teil des Musters. Wenn wir grottenschlechten Service erleben, sehen wir letztendlich doch über ihn hinweg und vergessen ihn. Selbst dann, wenn wir uns an den Vorfall erinnern, wirkt er sich langfristig kaum auf unser Verhalten aus – nicht, weil er keine Folgen für uns hätte, sondern weil er außerhalb unseres Erwartungshorizonts liegt. Ein Durchschnittskunde kann wahrscheinlich keine genaue Auskunft darüber geben, wie sein Besuch im Supermarkt vor drei Monaten war. Er wird sich nicht erinnern, ob es einfach war, einen Parkplatz zu finden, ob es eine Schlange an der Wursttheke gab oder wie der Kassierer aussah. Unser Gedächtnis speichert solche Details nicht.
Wenn man die Kunden aber danach fragt, welche Erfahrungen sie allgemein mit dem betreffenden Supermarkt gemacht haben, können sich die meisten dazu äußern. Sie wissen, ob er kundenfreundlich ist, die benötigten Artikel auf Lager hat und ob die Preise in einem vernünftigen Rahmen liegen. Bei Untersuchungen zur Customer Experience wird dies üblicherweise als „residuelles Gedächtnis“ bezeichnet – und residuelle Erinnerungen sind für Zukunftsprognosen relevanter als die momentane Einschätzung eines einzigen Kundenerlebnisses ohne weiteren Kontext.
Wiederholte Versäumnisse sind schlimmer als grobe Schnitzer
Stellen Sie sich vor, Sie gehen in einen Drogeriemarkt, um sich Ihr Lieblingsgetränk zu holen. Beim Bezahlen verhält sich der Kassierer Ihnen gegenüber schroff, geringschätzig, ja sogar etwas unverschämt – eine Abweichung von der Normalität. Doch wahrscheinlich würden Sie dieses Erlebnis als „schlechten Tag“ verbuchen, insbesondere dann, wenn sich derselbe Kassierer letzte Woche anders verhalten hat.
Wenn aber in demselben Geschäft mehrmals hintereinander die spezielle Zahnseide fehlt, die Sie benötigen, dann ist das ein Muster. Zur Erinnerung: Menschen sind wirklich gut darin, Muster zu erkennen.
Die Folgen dieser beiden Szenarien sind sehr unterschiedlich. Im ersten Fall sehen Sie über die schlechte Erfahrung mit dem Kassierer hinweg und vergessen sie fast vollständig. Im zweiten Fall sagt Ihnen Ihr residuelles Gedächtnis, dass dieser Drogeriemarkt nicht das hat, was Sie brauchen. Vielleicht ist die Zahnseide wegen einer simplen logistischen Verzögerung nicht auf Lager. Aber Sie als Kunde interessieren sich nicht für den Grund. Alles, was Sie wissen, ist, dass Sie das gesuchte Produkt in dieser Drogerie nicht bekommen – und dass Sie die Zahnseide beim nächsten Mal woanders kaufen. Fast immer sind normale, tagtägliche Versäumnisse im Service die Ursache einer negativen residuellen Erinnerung. In diesem Fall gibt Ihnen das Geschäft einen Grund, Ihr Geld in einer anderen Drogerie auszugeben. Sie gehen also notgedrungen dort hin und stellen fest, dass einige Produkte sogar billiger sind – und schon hat die erste Drogerie Sie als Käufer verloren.
Während das schlechte Erlebnis mit dem unfreundlichen Kassierer Sie nicht beeinflusst, verändert ein normales Lieferversäumnis Ihr Einkaufsverhalten. Warum? Weil die schlechte Laune des Kassierers für den Drogeriemarkt nicht typisch war.
Erlebnisse, die im Gedächtnis bleiben
Positive, residuelle Erinnerungen schafft ein Unternehmen, indem es hochdifferenzierte Prozesse um seinen Service herum entwickelt und diese dann mit größter Sorgfalt und Authentizität umsetzt. Es reicht nicht, den Kassierern zu erklären, dass sie lächeln sollen. Es reicht auch nicht, sämtlichen Mitarbeiter einzutrichtern, dass sie immer lächeln sollen.
Nein, das Unternehmen sollte lieber an seiner Einstellungs-, Coaching- und Motivationspolitik arbeiten, um zufriedene Mitarbeiter zu beschäftigen, die die Kundschaft ihrerseits zufriedenstellen wollen. Nur dann prägen sich den Kunden lächelnde Gesichter ein – und das Geschäft bekommt den Ruf, dass sein Personal immer freundlich ist. Über kurz oder lang bauen die Kunden auf diese Weise eine starke emotionale Bindung zum Unternehmen auf.
Eine solche Bindung bezeichnen Customer-Experience-Experten als „affektives Commitment“. Natürlich wünscht sich jedes Unternehmen der Welt diese emotionale Verbundenheit, denn die Menschen tun die verrücktesten Dinge, wenn sie Fan einer Marke sind. Genauer gesagt: Man erreicht damit ein sehr irrationales Kaufverhalten beim Kunden, mit dem größere Gewinne eingefahren werden können. Wenn jemand von einer Marke restlos begeistert ist und überall von ihr schwärmt, ist es ihm egal, ob der Preis eines Artikels um 1 Euro steigt. Und ist es ihm nicht egal, rechtfertigt er es. Sein Geld wird er nur in diese Marke investieren.
Bedenken Sie aber, dass eine negative Bindung den gegenteiligen Effekt haben kann. Wer ein schlechtes Bild von einem Unternehmen hat, dem ist es egal, wie sehr es sich bemüht – er wird es ablehnen und sein Geld woanders ausgeben.
Der Vorteil einer emotionalen Bindung
Eine emotionale, affektive Bindung wird auf verschiedene Weisen erzeugt. Manchmal entsteht sie durch die Unternehmensphilosophie, mit der die Werte der angesprochenen Zielgruppe aufgewertet und zelebriert werden. Manchmal hat ein Unternehmen ambitionierte Ziele und die Kunden identifizieren sich mit seiner Vision.
Patagonia beispielsweise ist eine Marke mit einem großen affektiven Commitment seiner Kunden. Denn der Outdoor-Ausstatter orientiert sich an deren Werten – mit der Folge, dass seine Kunden ein „irrationales“ Kaufverhalten bei Patagonia-Produkten an den Tag legen. So kostet eine typische isolierte Steppjacke auf der Website von Patagonia beispielsweise 250 Euro. Ähnliche Jacken, die in den allermeisten Fällen auch einen ähnlichen Kälteschutz bieten, gibt es bei Walmart für weniger als 20 Euro.
Bei diesem Preisunterschied drängt sich die Frage auf, warum sich jemand für die Patagonia-Jacke entscheidet. Der (natürlich emotional gebundene) Kunde wird so argumentieren, dass die teurere Jacke sehr gut verarbeitet ist und dass sie bei Schäden kostenlos repariert oder ersetzt wird.
Die Marktposition von Patagonia ist beneidenswert, um es gelinde auszudrücken. Nicht nur, dass gekaufte Ware sehr selten zur Reparatur zurückgesendet wird – man könnte zum Preis einer Patagonia-Jacke fünf oder sechs Jacken in unterschiedlichen Farben bei Walmart kaufen und hätte immer noch Geld für einen Kinobesuch übrig. Das ist der Effekt einer emotionalen Markenbindung.
Auch wenn Patagonia grobe Schnitzer sorgfältig vermeidet – das Unternehmen würde einen schlimmen Fauxpas mit Sicherheit überleben, denn seinen Kunden bleibt ein Muster positiver residueller Erinnerungen im Gedächtnis.
Es sind die kleinen Dinge, die zählen
Unternehmen, die ihre Customer-Experience-Programme verbessern möchten, sollten mehr Zeit auf ihre Geschäftsphilosophie, ihre Grundprinzipien und auf kleine Dinge verwenden. Kleine Fehler reißen schnell ein, denn sie sind normal und können leicht begründet werden. Doch der Kunde vergisst nicht. Nur wer sich vor Augen führt, was die Menschen an eine Marke bindet, kann eine starke emotionale Bindung zu seinen Kunden aufbauen – und seine Umsätze steigern.
Über den Autor: Luke Williams ist Head of Customer Experience (CX) bei Qualtrics, Marktforscher und Co-Autor der New York Times-Bestseller „The Wallet Allocation Rule” und „Why Loyalty Matters.”