Der angegriffene Wettbewerb ruht sich noch immer darauf aus, dass Musk ja noch kein Geld verdiene. Das ist allerdings in Anbetracht der immensen Entwicklungskosten für das gesamte Mobilitätssystem – inklusive Outlets, Batteriefabrik und Ladestationen – auch kein Wunder. Die etablierten Automobilhersteller werden Tesla so lange nicht ernst nehmen, bis sie von Musk überholt worden sind – in Stückzahlen und Profitabilität. Musk lässt sich nicht daran messen, jetzt noch nicht profitabel zu sein. Das hat noch Zeit. Aber es wird unweigerlich eintreten. Wer hätte bei Apple vermutet, dass es zum wertvollsten Markenunternehmen der Welt avanciert?
Die Begehrlichkeit von Tesla ist in jedem Fall bereits jetzt bahnbrechend: Zumindest ist es eine Premiere in der Automobilindustrie, dass innerhalb von 24 Stunden über 115.000 Vorbestellungen für ein Fahrzeug eingegangen sind, von dem nur das Design und wenige technische Features bekannt sind. Wie schafft Tesla das? Musk ist kein Zauberer, sondern ein großartiger Leader, der die Grundtugenden starker Marken mit den Erfolgsfaktoren digitaler Geschäftsmodelle verbindet.
Eine klare Mission
Teslas Mission ist es, den Wandel hin zur nachhaltigen Mobilität zu beschleunigen. Das treibt Musk und all seine Mitstreiter an. Die Mission hat alles, was man von einer echten Unternehmensvision erwartet. Die Frage ist: Was ist eigentlich die Mission der anderen, etablierten Automobilhersteller? Keiner der Hersteller hat bei der Vorstellung seiner neuesten Modelle auf der IAA eine klare Mission mit gesellschaftlicher Relevanz geäußert. BMW hat bei seiner 100-Jahrfeier und der dazugehörigen Kampagne vor generischen Zukunftsbildern nur so geglänzt.
Customing statt Marketing: Customer Interface und Intimacy neu definiert
Hier profitiert Musk sicher am stärksten von seiner erfolgreichen Umsetzung digitaler Geschäftsmodelle wie Paypal. Er hat verstanden, dass erfolgreiche digitale Konzepte den Wettlauf um die Nähe zum Kunden gewinnen. Aber eben nicht nur durch Sammeln von Kundendaten, sondern durch Überlegenheit bei Bedienbarkeit und Kundenservice. Musk weiß, wie er Kundenerwartungen übertrifft. Servicekonzepte zu kaufen, funktioniert bei Tesla mit einem Knopfdruck im Internet. Bei VW muss man dafür mehrere Verträge und seitenweise Vertragswerk analog unterzeichnen.
Wie verzweifelt waren gerade die älteren Kunden, als BMW, Mercedes und Audi die zentralen Bedienknöpfe für die Menüsteuerung von Radio, Navigationssystem und Fahrzeugsteuerung einführten. Das zentrale Tablet von Tesla lässt sich smart und intuitiv bedienen: Dazwischen liegen Welten! Tesla scheint wie Apple ein besseres Gespür dafür zu haben, was Kunden am Service, an der Bedienbarkeit und an der Nutzbarkeit von Automobilen wirklich stört – und was wichtig ist. Dabei ist Tesla so gut, dass weder die niedrigere Reichweite noch der Premiumpreis Käufer abschrecken, einen Tesla zu kaufen.
System statt Produkt
Fast alle Automobilhersteller haben in den letzten Monaten angekündigt, auch Elektrofahrzeuge zu bauen. Tesla freut sich darüber, weil es sie in ihrer Mission, die nachhaltige Mobilität zu beschleunigen, unterstützt. Die Produkte von Tesla werden vermutlich schnell Nachahmer finden, so wie heute fast jedes Smartphone ein Nachahmerprodukt des iPhones ist. Tesla ist aber keine Produktmarke, sondern die Marke für ein System.
Auch hier gibt es große Parallelen zu Apple. Apple war nie nur ein iPod oder ein iPhone oder ein MacBook. Die einfache Bedienbarkeit eines ganzen Systems inklusive iCloud oder iTunes hat Apple unvergleichlich gemacht. Und das, wofür Tesla steht, ist im gesamten System spürbar: das Übertreffen der Kundenerwartungen an die nachhaltige Mobilität von Morgen – bei der Vorinformation, bei der Auswahl des nächsten Mobilitätsmittels, beim Service und bei der Nutzung…
Überzeugende Leistungsbeweise
All das wäre nur Schaumschlägerei mit kurzer Wirkungsdauer, wenn nicht die Leistung des Systems den geäußerten Versprechen Stand halten würde. Zugegeben: Spaltmaße, Klappergeräusche, Verarbeitungsqualität entsprechen noch nicht überall dem gewohnten Perfektionismus stolzer Ingenieure. Aber die unglaubliche Sachkenntnis der Mitarbeiter in den Tesla Boutiquen, der perfekt funktionierende Online-Service, die unglaubliche Beschleunigung der Elektromotoren: Es fasziniert alle, die mit dieser Marke in Kontakt kommen. All das sorgt für Euphorie für eine Marke, die gerade erst am Anfang ihrer Entwicklung steht. Es bleibt abzuwarten, ob die alte Automobilindustrie noch einmal Paroli bieten wird oder ganz andere, unerwartete Konzepte aus dem Köcher zieht.
Über den Autor: Jürgen Gietl ist Managing Partner von Brand Trust mit langjähriger Erfahrung im operativen und strategischen Management von Marken. Seine Sachkenntnis nutzen namhafte mittelständische Unternehmen und globale Konzerne. Gietl ist ein gefragter Dozent auf zahlreichen Kongressen und an Hochschulen.