„Man darf doch gar nichts mehr sagen.” 

Political Correctness klingt wie ein größer werdendes Problem, ist es aber nicht. Denn wir kommunizieren heute völlig anders als früher. Auf Spurensuche.
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Gerald Hensel ist Managing Partner der Marketingberatung Superspring. (© Saskia Uppenkamp/ Montage: Olaf Heß)

Nicht-P.C. zu sein, wird in einer sich polarisierenden Zeit gerne als Zeichen von Charakterstärke gezeichnet. „Kante zeigen“, „Klartext“ – damit lassen sich heute Headlines in der Wahrnehmungsökonomie machen. Zwischentöne und Reflektiertheit wird verlacht. Dabei verstehen wir selbst kaum, wie sehr uns die implizite Einführung medialer „Benimmregeln“ als Gesellschaft geholfen hat. Während uns das Netz veränderte, mussten wir uns still und heimlich kommunikativ neu aufstellen. Es blieb gar keine andere Wahl. Wir würden es sonst nicht mehr mit uns aushalten.

Kulturelles Phänomen: Political Correctness 

Um welches kulturelle Phänomen handelt es sich? Jerry Seinfeld macht es für das Ende des TV-Humors in den USA verantwortlich. Thomas Gottschalks Karriere hat es auch auf dem Gewissen. Richtig: die Rede ist von der „Political Correctness“ – dem verlachten kulturellen Feindbild (nicht nur) älter werdender Medien-Silberrücken, die angeblich Sorgen um ihre Meinungsfreiheit haben. Und nicht nur die: Nur noch knapp 40 Prozent aller Deutschen glauben, dass sie ihre Meinung sagen dürfen. Eine Mehrheit von 44 Prozent ist in Deutschland – einem der freiesten Länder der Welt – der Meinung, sie müssten sehr aufpassen, was sie sagen. Noch zu Zeiten Willy Brandts, 1971, war das übrigens völlig anders. 83 Prozent der Deutschen waren damals sehr zufrieden mit dem Maß ihrer Meinungsfreiheit. 

Klingt wie ein größer werdendes Problem, ist es aber nicht. Denn wir kommunizieren heute völlig anders als früher. Die oben zitierten Deutschen der Brandt-Jahre sahen sich vor allem deshalb in ihrer Meinungsfreiheit kaum eingeschränkt, weil sich ihre individuelle Reichweite maximal auf den Stammtisch erstreckte. Da konnte man ungestört jeden Sexismus oder Rassismus raushauen. Widerspruch war ohnehin kaum zu erwarten. 2024 sieht die Sache halt anders aus. Wo ein LinkedIn-Posting schnell mal +100.000 Adressat*innen erreichen kann, darf man sich durchaus kommunikativ an ein paar zivilisatorische Mindeststandards halten – und wenn nur zum Selbstschutz. 

Respekt vor Diversität? Früher Mangelware 

Und noch etwas gab’s eben bei den braven Deutschen vergangener Tage kaum. Respekt vor Diversität. Einen besonders schlechten Job machte hier leider ausgerechnet die omnipräsente TV-Werbung. Die Grusel-Werbeblöcke aus der Schwarzwaldklinik-Ära kann man sich heute wieder auf Youtube anschauen. Mit allen Klischees, die wir gottseidank still und heimlich über Bord geworfen haben: Frauen, deren ausschließliches Gesprächsthema das Verwöhnen des Gatten oder der Kinder war. Krudeste Rassismen und Sexismen, die zu Premium-Karosse und Pfannengericht im Werbefernsehen der 1980er ebenso selbstverständlich dazu gehörten wie der gepflegte Schwulenwitz zu Stefan Raabs “TV Total” Jahre später. Wer sich mal schütteln will, möge nur mal „Raab in Gefahr: Stefan bei der Schwulen-WM“ suchen. Man fasst es nicht, dass das Format gerade mal zehn Jahre alt ist. 

Würden wir heute mit einer Zeitmaschine für 24 Stunden ins Jahr 1984 fliegen, könnten wir unseren Augen und Ohren kaum Trauen. Wir wären schockiert, wie klischeehaft, stereotypisierend und abwertend damals kommuniziert wurde und welches Bild von Menschen gezeichnet wurde, die nicht weiße, heterosexuelle, nichtbehinderte, wohlhabende Männer waren. Wer diesen Zeiten hinterhertrauert, und sich ausgerechnet hierzulande zensiert fühlt, wenn er Schaumkuss oder Paprika-Schnitzel sagen muss, dem empfehle ich – völlig Un-P.C. – einen kürzlich plakatierten Wahlwerbespruch: „Sei kein Arschloch.“ 

Gerald Hensel ist Managing Partner der Marketingberatung Superspring. Der Kolumnist hat die NGO HateAid mitgegründet und setzt sich seit vielen Jahren aktiv gegen Gewalt und Desinformation im Netz ein.