Die Tierwohl-Initiativen zielen auf den gespaltenen Fleischkonsumenten. Sie greifen die latenten Schuld-Komplexe auf, mit denen sich die Verbraucher belasten, wenn sie sich die ethischen Probleme des massenhaften, preiswerten Fleichverzehrs und der damit verbundenen Tierhaltungsmethoden gewahr werden. Der Verbraucher steht heutzutage in einem Schuld-Dilemma. Fleischkonsum steht für Lebensqualität und Lebensgenuss. Mit Fleisch essen ist – das wissen wir aus der tiefenpsychologischen Forschung – eine lustvolle Seite verbunden: Ein Stück weit gehen wir auf unsere archaische psychische Stufe zurück, und führen uns die Lebenskraft des getöteten Tiers zu. In Ansätzen kann man diesen psychologische Zusammenhang in dem alten CA-Claim: „Fleisch ist ein Stück Lebenskraft“ wiederfinden, oder auch in den archaisch männlichen Inszenierungen im Rahmen des Beef- und BBQ-Trends, z.B. die „Bullerei“ von Tim Mälzer.
Tierhaltungs- und Fleisch-Skandale
Der moderne Fleisch-Konsum findet völlig abgekoppelt von einem reellen Verständnis von Tieren und Tierhaltung statt. Wer früher vor Jahrzehnten auf dem Dorf groß geworden ist, hat vielleicht noch mitbekommen, wie eine Schlachtung von Nutztieren ablief. Damals wurde Fleisch im Speiseplan auch noch mit der Verbesonderung eines „Sonntagsbratens“ verbunden. Dagegen haben Fleischkonsumenten heute keinen oder kaum Kontakt zu Aufzucht und Schlachtung. Fleisch wird im Supermarkt eingekauft wie ein Sachgegenstand. Die Konsumenten blenden dabei jede Vorstellung vom lebendigen Tier aus – was wiederum auch massenhaften Fleischkonsum psychologisch erst ermöglicht. Denn wenn sich der moderne Fleischkonsument klarmacht, dass für die Chicken-Wings echte Hühner gehalten wurden oder der Rinderhack von dem buntgescheckten Tier stammt, kommen bei ihm regelmäßig Schreckbilder von Massentierhaltung, „KZ-Ställen“ (Interviewzitat) und Tierquälerei auf (Schnabelkürzen, Kükenschreddern). Diese Bilder werden mit den regelmäßig in den Nachrichten auftauchenden Tierhaltungs- und Fleisch-Skandalen immer aufs Neue verankert.
Der Fleischkonsument lebt in einer psychologischen Spaltung: Auf der einen Seite ungetrübter, täglicher Konsum von „Fleischprodukten“, die komplett „neutralisiert“ und entkoppelt vom Tier erworben und verzehrt werden – auf der anderen Seite meist verdrängt gehaltene Schuldgefühle aufgrund des Sich-Versündigen an dem Mitgeschöpf und Opfer Tier, das auf schreckliche Weise die Umstände der „Massentierhaltung“ erleidet.
Das latente Schuld-Dilemma nagt an dem Konsumenten. Die Verdrängung klappt graduell gesehen immer schlechter, was auch an den tendenziell leicht rückläufigen Konsum-Mengen abzulesen ist. Dennoch ist der Verbraucher in der Regel nicht konsequent: Nur sehr wenige Konsumenten steigen konsequent auf das teure Bio-Fleisch um. Seit langem bietet das Lebensmittelmarketing den Konsumenten auch Beruhigungsangebote. Das Fleisch kommt vom Erlenhof, die Verpackungen sind mit allerlei Folklore wie Bauernhöfe, Windmühlen, Weidekörbe etc. verziehrt. Das suggeriert, dass es bei der Tierhaltung vielleicht doch noch so zugeht wie im Kinderbilderbuch über den Bauernhof.
Romantisiertes Bild der modernen Tierhaltung
Die Tierwohl-Initiativen der Wirtschaft und des Landwirtschaftsministeriums beschreiten einen anderen Weg: Sie beziehen sich auf ein realistisches, nicht infantil romantisiertes Bild der modernen Tierhaltung. Im Rahmen der modernen Haltungsbedingungen der konventionellen Landwirtschaft (die rund 95% de Umsatzes ausmacht) zeigen sie die realistischen Spielräume für Verbesserungen auf wie beispielsweise Schutz der Ferkel, artgerechte Beschäftigung der Tiere, besseres Platzangebot. Statt die Verbraucher mit idyllischer Kommunikation zu beruhigen, unterstützen die Initiativen zum Tierwohl reale Maßnahmen wie z.B. den Umbau der Ställe. Es ist allerdings bedauerlich, dass die neue Aktion „Tierwohl – eine Frage der Haltung“, die vom Landwirtschaftsminister initiiert worden ist, in unvermittelter Konkurrenz zur bereits angelaufenen „Initiative Tierwohl“ des Handels und der Fleischerzeuger steht. Für den Verbraucher ist das hochgradig verwirrend: Warum zwei Initiativen für die gleiche Sache? Worin liegen genau die Unterschiede? Warum haben sich Ministerium und Wirtschaft nicht auf eine gemeinsame Initiative verständigt? Es droht, dass das lobenswerte Anliegen der tatsächlichen Verbesserung des Tierwohls durch die Konkurrenz der Initiativen blockiert wird.