Brief an mein jüngeres Ich, Folge 29: Annabelle Jenisch 

Im Brief an sich selbst blicken bekannte Köpfe aus dem Marketing zurück. Heute: Annabelle Jenisch, Geschäftsführerin bei der TLGG Group. Sie schreibt über Souveränität und Verletzlichkeit – und was beides mit Authentizität zu tun hat.
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Annabelle Jenisch ist Geschäftsführerin bei der TLGG Group. (© privat, Montage: Olaf Heß)

Liebe Annabelle, 

09.00 Uhr, Ankunft in Stuttgart und direkt weiter zum Kunden. Dein Bauch krümmt sich vor Schmerzen, du willst dich lieber im Bett verkriechen als den anstehenden Pitch zu halten. Du bist 27 Jahre alt und triffst gleich den Vorstand eines großen renommierten Unternehmens. Ihnen zeigst du auf, wie sich ihr Geschäftsmodell durch Technologie, sich veränderndes Verhalten der Konsument*innen und zunehmenden Online-Handel verändern wird. 

Was hat die Gesellschaft dir beigebracht, wie man sich in solchen Momenten und Runden verhält? Stark. Souveränität demonstrieren durch Dominanz, Lautstärke, vermeintliche Allwissenheit. Was ich dir gerne zugerufen hätte: Nimm die Verletzlichkeit und Unsicherheit, die an diesem Morgen in dir steckt, als Quelle für deine Souveränität. Sei du mit allem, was in diesem Moment dazugehört. Du kannst wahnsinnig souverän sein, wenn du authentisch bleibst. Wenn das bedeutet, weniger durch Dominanz und Lautstärke aufzufallen und stattdessen besser zuzuhören und die Bedürfnisse der Anwesenden zu verstehen, dann ist das ok. Wenn das bedeutet durch Ruhe und Nahbarkeit einen guten Draht zum Vorstand aufzubauen, dann ist das genauso wertvoll, wie dein gelerntes Muster durchzuziehen. Wenn nicht sogar noch wertvoller.  

Den Wert von Authentizität anzuerkennen und das Einbringen diversester Fähigkeiten zu schätzen und zu fördern – auch in Unternehmen – ist nicht zuletzt ein wichtiger Schritt im Kulturwandel hin zu einer inklusiven Gesellschaft. Was als Stärke verstanden wird und was nicht, ist im Patriarchat klar abgesteckt. Zu zeigen, dass es anders geht und du durch dein Verhalten etwas daran ändern kannst, konntest du damals noch nicht. 

Inzwischen hast du gelernt, deine Gefühle und emotionalen Zustände anzunehmen und damit in jede Situation zu gehen. Und du hast erfahren, welche unglaubliche Kraft in der Fähigkeit steckt, sie nicht wegzudrücken, sondern zu erforschen und von ihnen zu lernen. So hast du herausgefunden, dass diese Gefühle ein Geschenk sind und dass es viel gesünder ist, sie anzunehmen und dich das viel weniger Kraft kostet als dagegen anzukämpfen. Und das gilt nicht nur für dich, sondern auch für dein Gegenüber. Denn wenn du authentisch bist, öffnet das einen Raum für andere, ebenfalls authentisch zu sein und ihre Emotionen und Gefühle als Fähigkeit zu nutzen. 


Alle bereits erschienenen Folgen der Reihe “Brief an …” finden Sie hier