Kennen Sie die Grafik, die jeder Todsünde eine passende Online-Plattform zuordnet? Demnach steht Netflix für Trägheit, Lieferando für Völlerei, Instagram für Neid, Amazon für Habgier, Tinder für Wollust und LinkedIn für Hochmut. Und Twitter? Das bedient den Zorn.
Ich weiß schon, warum ich mich auch zehn Jahre nach meiner Registrierung auf der Plattform immer noch schwer damit tue, dort mehr als fünf Minuten pro Tag aktiv zu sein. Immer wenn man denkt „Ist doch ganz nett hier“, kommt jemand um die Ecke und macht die Stimmung kaputt. Wann hat das eigentlich angefangen, dass Empörung zum Klebstoff unserer Dialogführung im öffentlichen digitalen Raum wurde – wohingegen Empathie doch echte Bindekraft hat.
Fleischrezepte als Reaktion auf Katzenfotos
Sie könnten das Foto eines Katzenbabys posten, das dicht an einen Hundewelpen gekuschelt ein Schläfchen macht: Sie werden unter vielen Likes und liebevollen Kommentaren auch hämische Entgleisungen erfahren, irgendwer kommt mit einem Link zu einem Fleischrezept um die Ecke. Es gibt eben zu viele Menschen, die Lust an der Provokation haben. Das sind die, die zuhause – wie Die Ärzte es einst besangen – eine Kuschelrockplatte im Regal haben, im Netz aber ihre guten Manieren vergessen.
Hate Speech entsteht in den Kommentarspalten wie ein Schneeball: Ein Wort ergibt das andere. Gut verpackt als verdeckte Gesellschaftskritik, überspitztes Gedankenspiel oder vermeintlich offene Frage funktioniert Hass eben auch. Die Zeiten der intellektuellen Trägheit sind vorbei.
Wer sich als EU-Bürger*in zu radikal äußert, wird dank entsprechendem Gesetz früher oder später Konsequenzen erfahren. Wer seinen Verbaldurchfall besser zu verschleiern weiß, kommt durch. Und genau das macht mir Angst. Hate Speech entwickelt sich weiter, und bei Twitter – einem mächtigen Instrument zur Meinungsbildung – können wir der gesellschaftlichen Moral punktuell beim Entgleisen zuschauen.
Glauben Sie nicht? Dann gönnen Sie sich doch mal den Spaß und folgen Sie ein paar LGBTIQ+ Aktivist*innen, einer Handvoll Feminist*innen und obendrein auch noch ein paar Grünen-Politiker*innen – da geht es dann richtig ab. Das verspreche ich Ihnen.
Alles ist erlaubt – auch Fake News und stumpfe Tollerei
Im öffentlichen Dialog wandeln wir mehr denn je auf einer dünnen Linie zwischen Wokeness und verbalen Dystopien. Und ich frage mich, wie es geworden wäre, wenn Twitter-Fast-Besitzer Elon Musk seine Drohung von Free Speech wahr gemacht hätte. Denn hier geht es mitnichten um freie Meinungsäußerung, wie wir sie kennen. Free Speech meint in den USA vielmehr: Alles ist erlaubt, im Zweifel auch Fake News und stumpfe Trollerei. Die Grauzone ist nicht das Limit, sondern der Bereich, in dem die Party erst so richtig in Fahrt kommt.
Warum ich trotzdem noch auf Twitter bin? Keine Ahnung, sagen Sie es mir. Sie finden mich unter https://twitter.com/dolledeern.
Isabelle Ewald ist Senior Consultant Technology Strategy beim Handels- und Dienstleistungskonzern Otto Group. Überdies ist sie Co-Host des zweiwöchentlich erscheinenden True-Crime-Podcast „Mind the Tech“, der sich um den Tatort Internet dreht.