Seit im Weingut der Familie Diehl der Juniorchef das Sagen hat, ist nichts mehr, wie es war. Thomas Diehl, 30 Jahre, sagt Sätze wie „Wir wollen den Weg ins Digitale als Pionier beschreiten.“ Das ist durchaus ernst gemeint. Seit 50 Jahren bewirtschaftet seine Familie in Rotenberg, einem Stadtteil im Osten Stuttgarts, sieben Hektar Weinberge. Es war Zeit für eine Veränderung.
Winzer und digitalen Transformation? Für Menschen, die bei Wein an Fässer denken, in denen der Rebensaft langsam heranreift, mag das merkwürdig klingen. Doch in vielen Weingütern, die derzeit in die Hände der nächsten Generation übergehen, sind Online-Vertrieb und Social Media ein großes Thema. „Gute Weine zu machen allein reicht heute nicht mehr“, sagt Ernst Büscher vom Deutschen Weininstitut im rheinhessischen Bodenheim.
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Marketing und Wein: Die Geschichte einer Revolution
Kund*innen seien probierfreudiger und anspruchsvoller, Qualität werde als selbstverständlich vorausgesetzt. „Man kann sich nur noch durch Vermarktung differenzieren.“ Wichtig sei vor allem, eine Geschichte rund um den Wein zu erzählen. „Das wird von vielen jungen Winzern sehr professionell gespielt.“
Bei Diehl ist es die Geschichte einer Revolution. Er hat Betriebswirtschaft studiert, bei Rocket Internet und der dazugehörigen Beratung Rckt gearbeitet. Die Rückkehr aufs elterliche Gut war ein Kulturschock. „20 Jahre hatte sich hier im Marketing nichts verändert. Das gleiche Etikett, Vertrieb über die Straußenwirtschaft“ – eine Weinstube mit Direktverkauf. Die Berliner Startup-Szene hat Diehl geprägt, er weiß, was Disruption bedeutet und wie man sie anpackt. Schon vor Corona ging es los: neues Corporate Design, moderne Website, Online-Shop, Präsenzen auf Instagram und Facebook. Doch Diehl wollte mehr.
Influencer*innen und User Generated Content
Damit die Marke bestehen kann, muss sie ins höherpreisige Segment kommen und eine jüngere Zielgruppe ansprechen, so sieht er das. Er hat das Sortiment umgekrempelt und für Traffic gesorgt. War früher die günstige Literflasche das Hauptprodukt, so sind es jetzt edel aufgemachte Lagenweine und eine eigene „TD“-Linie mit Cuvees, die Namen tragen wie „Pragmatist“ und „Manifesto“. Es gibt jetzt Sondereditionen und Kampagnen, wie die Aktion „Wir hamstern Wein statt Klopapier“ in der Hochzeit der Pandemie.
Diehl sponsert eine Berliner Startup-WG, in der Influencer*innen ein- und ausgehen, und bespielt Social-Media-Accounts mit News und Erklärvideos („Was ist eine Rebschere?“). Suchmaschinenoptimierung ist für den jungen Winzer ebenso selbstverständlich wie die Erzeugung von User Generated Content: QR-Codes im Weinpaket ermuntern die Empfänger, ihren Moment des Weingenusses zu teilen.
Viele neue Kunden, aber keine Romantik mehr
Die Bilanz kann sich sehen lassen. Das Online-Geschäft floriert, „aus fünf Paketen in der Woche wurden bis zu 50 am Tag“, sagt Diehl. Über Social Media hat das kleine Weingut mehr als 800 Neukund*innen gewonnen. Der Umsatz verdreifachte sich zeitweise, gegenwärtig schwächt er sich inflationsbedingt wieder etwas ab – und schon hat der Junior reagiert: Mitte August will er „Drop“ herausbringen, eine niedrigpreisigere Eigenmarke auf Basis zugekaufter Trauben.
So viel Dynamik hat ihren Preis. „Drei Viertel der Stammkunden haben wir verloren, die waren ein günstigeres Produkt gewöhnt“, sagt Diehl. Die Beschaulichkeit eines Arbeitstags, in dem Kund*innen jederzeit hereinschneien konnten und Weinpakete per Hand adressiert wurden, ist verschwunden. Die Straußenwirtschaft – geschlossen. In der Familie gibt es Diskussionen über den neuen Kurs, den Eltern geht die Veränderung manchmal zu schnell. „Das Romantische hab‘ ich ein bisschen abgeschafft“, gibt Diehl zu.
Auch 200 Kilometer weiter nördlich in Rheinhessen, auf dem Weingut der Familie Meiser in dem kleinen Ort Gau-Köngernheim, hat vor wenigen Jahren die nächste Generation übernommen: Charlotte Meiser, 29 Jahre. An der Hochschule Geisenheim hat sie Weinbau und Oenologie studiert und einen MBA in Wine, Sustainability & Sales draufgesetzt. Auch sie will das Gut prägen, auch sie hat „Handlungsbedarf bei Marketing und Verkauf“ festgestellt. Und geht doch einen anderen Weg. „Weinbau ist für mich eine sehr traditionelle Branche, die sich langsam wandelt“, sagt die Kellermeisterin.
Über 300 Jahre in der Region – das verpflichtet
35 Hektar, seit 1696 in Familienbesitz. Die Geschichte, die in Köngernheim so authentisch wie professionell erzählt wird, ist die eines Winzers, der sich der Region und familiären Werten verpflichtet fühlt. Der sich auf traditionelle Rebsorten konzentriert, wie Früh- und Spätburgunder. „Genau das wird doch von vielen gesucht: Ein Betrieb, in dem die Familie selbst Hand anlegt und in dem Zeit und Reife eine wichtige Rolle spielen“, meint Charlotte Meiser.
Im Onlineshop stehen Literflaschen, die sechs Euro kosten, neben soliden Orts- und hochklassigen Lagenweinen; einen gutseigenen Traubensaft aus der Scheurebe gibt es auch. Auf den Etiketten steht, was drin ist, mehr nicht: „Meiser Riesling 2020 trocken“, „Meiser Spätburgunder Rosé feinherb“. Eine eigene „CM“-Linie brauche es nicht, findet Meiser. „Bei mir ist jeder Wein so, wie ich ihn haben will.“
Seit jeher bauen die Meisers neben Wein auch Weizen und Gerste an. Überdies gibt es sechs Schweine, die so lange ein glückliches Leben führen, bis sie den Gästen in der Straußenwirtschaft serviert werden. Die wird von der Seniorchefin geführt und gehört zum Setting unbedingt dazu, wie auch Wanderungen durch die Weinberge und das liebevoll restaurierte Gästehaus, das unter dem Slogan vermietet wird „Kein Stress, keine Termine, kein Telefon“. Neu sind vier kleine Alpakas, die Charlotte Meiser 2019 angeschafft hat. Für 40 Euro pro Person dürfen Besucher*innen mit ihnen spazieren gehen.
Digitale Gärtanks und Umstellung auf Bio
Zielgruppengerechte Angebote machen, neue Einnahmequellen erschließen – Tradition heißt für die junge Winzerin nicht, dass alles bleiben muss, wie es war. Auch sie hat Website und Etiketten neugestaltet, das Sortiment überdacht. Eine digitale Gärsteuerung ist für sie so selbstverständlich wie für Thomas Diehl, „da bin ich Technikfreak“. Ihr nächstes Großprojekt sei die Umstellung auf Bio, sagt Meiser: „Das passt zu uns, ist aber auch ein Marketing-Schritt.“ Ökologisch produzierte Weine sind in – und lassen sich zu höheren Preisen vermarkten.
Social Media hingegen, na ja: Bei Facebook und Instagram „dümpele ich mit meinen Followern so dahin“. Für den Vertrieb ist das aber auch nicht so wichtig, rund 80 Prozent des Absatzes laufen bei Meiser über Fachhandel und Gastro, man kennt sich. „Die Geschäftspartner dort sind jetzt meist so alt wie ich, und oft hatte deren Opa schon mit meinem Opa zu tun.“
Zwei Winzer, zwei Welten. Und doch gibt es Gemeinsamkeiten. Diehl hofft, dass, wenn die Revolution geschafft ist, wieder mehr Zeit fürs Zwischenmenschliche bleibt und für die Pflege von Stammkund*innen. Meiser wiederum experimentiert mit einem QR-Code, der bei YouTube auf ein Erklärvideo eines Sommeliers verlinkt. Offen für Veränderung sein, das eigene Tempo finden, am Ende ist es wohl das, was zählt.