Nach britischen und US-Marken wie der New York Times und Verizon hatten sich in der vergangenen Woche auch die Schweizer Kunden Swisslife und Baer der Blockade angeschlossen. Glaubt man deutschen Online-Marketing-Managern und -Dienstleistern, so könnten deutsche Marken sich ihnen anschließen. In einer Trendumfrage der Agentur Frau Wenk unter 50 Marketingexperten gaben 64 Prozent an, Budgetkürzungen für möglich zu halten. Gerade einmal ein Fünftel meint, es bleibe alles beim Alten. Die Agentur hatte über 500 Führungskräfte aus der Branche um ihre Einschätzung gebeten, wie sich die Diskussion um Werbung im Umfeld kritischer YouTube-Videos in den Werbeinvestitionen deutscher Marken niederschlagen könnte.
Immer mehr internationale Marken wie der Guardian oder L’Oréal hatten in den vergangenen Wochen ihr Budget aus dem Werbenetzwerk von Google abgezogen. Sie hatten nach eigenen Angaben die Konsequenzen daraus gezogen, dass das Unternehmen die Forderung nach sichereren Werbeumfeldern in seinem Video-Portal YouTube vernachlässigt hätte. Auf YouTube liefen demnach Werbespots auch vor Videos, die Gewalt, Fremdenhass oder sexuelle Inhalte enthielten. Nach derzeitigen Analysteneinschätzungen hat Google durch die Kürzungen der internationalen Werbekunden bereits 750 Millionen US-Dollar verloren; 7,5 Prozent des bereinigten Jahresumsatzes.
Online-Werbung allgemein droht kein Budgetverlust
Obwohl sich die Online-Werbebranche mit dem Google-Boykott beschäftigt, ist dieser nur das neueste Symptom der international geführten Diskussion um die Qualität von Online-Werbung. Auswirkungen auf die insgesamt in Online-Werbung investierten Budgets halten 76 Prozent aller befragten Online-Marketing-Manager und -Experten dennoch für unwahrscheinlich.
Dass sichere Werbeumfelder nun auf der Tagesordnung stünden, schreiben die Befragten zwei Gründen zu. Zum einen habe der Markt nun eine Marktreife erreicht, die mit höheren Qualitätsanforderungen einhergehe, meinen 86 Prozent. Zum anderen habe die zuletzt geführte Gesellschaftsdebatte um Fake-News auf Facebook oder Fake-News-Portalen wie Breitbart die Werbungtreibenden so sehr sensibilisiert, dass sich die Frage der Brand-Safety nun akut stelle. Vorher hätten nur die KPIs stimmen müssen, sagten zwei Drittel.
Perspektive: Werbekunden strafen kurzzeitig ab, Werbung wird besser
Der Boykott werde jedoch nicht lange anhalten, darin sind sich Online-Marketing-Manager und -Dienstleister einig. Gerade einmal 14 Prozent glauben, dass der Boykott Marken mehrheitlich mitreißen kann. Für sechs von zehn Experten ist das Google-Netzwerk aus Markensicht zu effektiv, um es lange zu meiden. Und die Hälfte der Befragten glaubt, dass die meisten Boykotteure nach wenigen Wochen wie gehabt investieren werden. Langfristig werde Online-Werbung allerdings qualitativ von dem Boykott profitieren und hochwertigere Digitalkanäle für Marken bereitstellen, sagen 66 Prozent.
Stand der Debatte und Hintergrund
YouTube arbeitet derweil an der Klassifizierung seiner Videos, berichtete in der vergangenen Woche Youtube-Chefin Susan Wojcicki, hat aber nach eigenen Angaben noch keine Lösung für das Brand-Safety-Problem gefunden. Die größte Herausforderung für YouTube dürfte dabei die Menge an veröffentlichten Videos sein. Auf der Plattform wurden 2014 jede Minute 300 Stunden an usergenerierten Videos hochgeladen (Statistik: November 2014, keine neueren Werte veröffentlicht), ein weiterer Anstieg in den letzten Jahren wird von Experten erwartet. Berichte von Mitarbeitern des Facebook-Löschteams bei Arvato zeigen bereits, wie schwer es für ein Unternehmen sein kann, große Mengen an User-generated Content zu löschen. Bei Arvato haben Mitarbeiter nach Berichten der Süddeutschen Zeitung etwa acht Sekunden Zeit für die Bewertung gemeldeter Videos.
Das sagen ausgewählte Branchenexperten
Christian Griesbach, Teads
„Werbende Markenunternehmen und Agenturen haben sich offensichtlich nicht intensiv genug mit den Umfeldern beschäftigt, in denen ihre Anzeigen platziert werden. Das ändert sich jetzt hoffentlich endlich. Besonders für Videowerbung wurde zu lange alles auf die Youtube-Karte gesetzt. Alternativen in redaktionellen Premium-Inhalten gibt es schon lange. Diese werden jetzt endlich deutlich mehr Beachtung finden.“
Patrick Edlefsen, Sizmek
„Aus großer Macht erwächst große Verantwortung. Google trägt wie jedes Medium Verantwortung für das Werbeumfeld. Dieser Verantwortung und dem Vertrauen seiner Kunden wurde Google offensichtlich hier nicht gerecht. Nun muss das Werbenetzwerk sein Versäumnis beheben und Vertrauen zurückgewinnen. Brand-Safety ist aber auch jenseits von Google überall dort gefährdet, wo Medien sich einer offenen Verifizierung verschließen. Hier können Marken ihren Einfluss auf den Werbeprozess nutzen.
Jedes Unternehmen hat die Pflicht, den Schutz der eigenen Marke zu gewährleisten und seine Partner zu prüfen. Werbetreibende haben sicher bei all den Benefits, die ihnen das Umfeld liefert, niemals mit den negativen Auswirkungen gerechnet und geben Youtube jetzt die Quittung. Ab sofort werden diese Unternehmen mit vertrauenswürdigen Partnernetzwerken arbeiten und technische Lösungen verwenden, die Umfelder vor der Werbeauslieferung für Brand-Safety verifizieren. Ob Youtube bald wieder dazu gehört, haben sie noch in der eigenen Hand. “
Friedrich Bardt, Regional Director, Spredfast
„Im digitalen Zeitalter ist kein Markt frei von der Diskussion um Brand Safety, auch Deutschland nicht. Nehmen wir die Unternehmen mit globaler Präsenz. Die sind lokal vor Ort, um nah an den Konsumenten zu sein, haben aber gleichzeitig Prozesse, die die Markenpräsenz insgesamt schützen. Wenn die Brand-Safety-Bedenken weiter wachsen, brauchen Unternehmen jederzeit eine aktuelle Übersicht, welche Kampagnen wo und in welchen digitalen Kanälen laufen, damit sie diese jederzeit sofort pausieren können, wenn sich eine Situation ändert oder ein unerwartetes Szenario auftaucht.“
Jörg Schneider, Country Manager Germany, Undertone
Der Werbemarkt befindet sich schon länger in Debatten um Viewability und Fraud, da ist es schon fast absurd, dass mit dem derzeitigen YouTube-Skandal die Brand-Safety-Diskussion wieder auftaucht und alle Modelle in der Distribution von Online-Werbung erneut in Frage gestellt werden. Werbungtreibenden ist bekannt, dass es keinen 100-prozentigen Schutz gibt, vor allem bei user-generated Content. Dieses Risiko sind Werbungtreibende für die fast unbegrenzten Skalierungsmöglichkeiten und hohe Reichweite auf YouTube eingegangen. Solange man sich auf Software und technologische Systematiken zur Herstellung von Brand Safety verlässt, entstehen Lücken. Dabei gibt gerade die programmatische Distribution Transparenz zurück und die Möglichkeiten, Brand Safety durch Filter, White- und Blacklisting oder Content-Targeting zu gewährleisten.
Marken müssen sich hier mehr engagieren. Sie müssen besser auswählen, wo sie mit wem Werbung ausspielen wollen und ihre Prioritäten überdenken und auch kommunizieren. So wie das kürzlich Marc Pritchard von Procter & Gamble mit seinem Fünf-Punkte-Plan gemacht hat. Viele Werbungtreibende werden auch hierzulande Qualitätsprüfungen vornehmen, was gut und richtig ist. Am Ende heißt es fast endlose Skalierung und Optimierung zu Performance-KPIs oder eine fast hundertprozentige Brand Safety. Letztere beschneidet zwar die Netto-Reichweite und erhöht den Buying Price, lässt aber automatisch die Qualität der Umfelder, die Planbarkeit und damit am Ende auch die Effizienz und Performance steigen.
Markus Schindler (hurra.com)
„Sicherlich wird das Thema ‘Brand Safety auf Youtube‘ auch in Deutschland diskutiert. Eine gute Agentur überlässt die Werbeplatzierung jedoch nicht dem Zufall. Sie weiß, wie und wo die jeweilige Marke bestmöglich präsentiert wird – und steuert die Kampagne dementsprechend aus. Daher sollte das Problem eigentlich gar nicht erst entstehen. Wir spüren und erwarten keine Budgetcuts seitens der Kunden. Im Gegenteil: Falls sich andere vom Markt zurückziehen sollten, würde dies sinkende CPCs einläuten, was unseren Kunden natürlich entgegenkäme.“
Schahab Hosseiny (MSO Digital)
„Jahrelang haben die großen Werbenetzwerke Google mit Millionen Werbeeuro gefüttert und die Performance war fantastisch. Dieser vermeintlichen Freundschaft wird jetzt der Krieg erklärt. Das liegt aber nicht an der unbestrittenen Brand-Safety-Problematik, sondern das wahre Problem ist in der politischen Dimension verankert. Die Werbenetze sind von Google abhängig. Da zahlt die Brand-Safety-Debatte nun exzellent auf die politische Agenda der Werbenetzwerke ein.“