Erinnerung an die „guten alten Zeiten“ scheint also angesagt. Selektive Erinnerung natürlich. Ausgeblendet wird Negatives. Kehrt mit Tri Top wirklich nur die unbeschwerte und fröhliche Kindheit wieder – oder ging es damals nicht auch um das grosszügige und kostensenkende Mischverhältnis von Leitungswasser und Sirup? Worum es auch heute Vielen wieder geht. Oder wie begründet der „DDR-Alltag“ die sogenannte tiefenpsychologische Struktur der erfolgreichsten „Ostmarke“: „Der kulturell verankerte Mythos „Rotkäppchen“ mit seiner Analogie zur psychologischen Struktur des Sekttrinkens ermöglicht erst die kreative Umsetzung der Spannungsfelder von: Selbstkontrolle und Kontrollverlust, Angst und Lust, Verführung und Versuchung, Mystik und Magie“ (Kreativstrategie der Kommunikationsagentur)?
Einiges am Phänomen des kollektiven Erinnerns würde man gern besser verstehen. Zunächst einmal fragt man sich, warum und wie die Revitalisierung längst vergessener Marken überhaupt funktionieren kann. Wie kann VW 2005 den Mythos Bugatti wiederbeleben, obwohl fast ein halbes Jahrhundert (seit 1956) kein Bugatti produziert wurde? Das Identifikationsangebot der Marke Bugatti wurde vom Firmengründer schon in den 20er Jahren beschrieben: „Nichts ist zu schön, nichts zu teuer“. Wie fand diese Wertewelt der Marke Eingang in so etwas wie unser kollektives alltagskulturelles Gedächtnis und kann effizient und effektiv heute wieder aktualisiert werden?
Und worauf setzt die kommunikative Nutzung unserer kollektiven Erinnerung? Auf museale Bewahrung beispielsweise mit stilistischen Erinnerungen an die Vorgänger in den dreißiger und vierziger Jahren (sicher eine Versuchung für die Designer des Maybach)? Oder geht es bei der Wiederbelebung von Mythen um die zeitgemäße Interpretation einzigartiger Traditionslinien? Oberflächliche und gefällige Historisierung oder respektvolle Verwurzelung in der Geschichte? Letzteres formulieren die „Macher“ des MINI als Anspruch. Genutzt werden soll der MINI-Mythos als Reflex eines charmant-sympathischen Individualistengefährts, very british mit liebenswert-exzentrischen Macken – neu aufzubauen ist dagegen das Vertrauen in die Produktsubstanz, um das Bild des unzuverlässigen störanfälligen Kleinstwagens ohne Stauraum loszuwerden.
Die wohl wichtigste Rückfrage abschliessend: ist die Aktualität der Vergangenheit nicht vor allem mit dem Mangel an attraktiven Zukunftsvisionen zu begründen? Gilt auch für die Markenwelt und die Markenmacher: „so wenig Zukunft wie jetzt war auch kaum jemals“ (Paul Nolte)? Dann müssten wir alle besorgt sein: „Die Übermacht der Erinnerung ist eine Kompensation der verloren Zukunft.“
Über den Autor: Dr. Jürgen Häusler ist CEO von Interbrand Zintzmeyer & Lux