„Zero-Based Re-Habiting“: Wachstum im New Normal

In vielen Ländern hat der Lockdown mehrere Monate lang angehalten, in manchen hat er noch Bestand oder wurde jetzt im Herbst erneut ausgerufen. Eine lange Zeit. Weitaus länger als 60 Tage, die es in der Regel benötigt, damit sich menschliches Verhalten ändert. Genug Zeit also, um jahrelang bestehende Konsum-Gewohnheiten verschwinden zu lassen. Und für Marken eine gute Chance, Verbraucher für sich zu gewinnen.
Konsum
Es ist Zeit für einen Neustart, um die Relevanz von Marken durch neue Gewohnheiten wiederherzustellen und so den Kaufwunsch wiederzubeleben. (© iStock/max-kegfire)

Marketingforscher werden Corona später als einen Fall beispielloser Konsumamnesie beschreiben. Über Jahrzehnte wurden unsere Konsumgewohnheiten durch kontinuierliche Interaktion mit Millionen von Reizen und Signalen aufgebaut, konditioniert und beständig verstärkt. Das gilt auch für den Kauf oder die Nutzung von Marken.

Corona beeinflusst mentale Verankerung von Marken

In normalen Zeiten ziehen sich Signale wie Spuren durch unser Bewusstsein, schaffen neuronale Pfade oder „Gedächtnisstrukturen“, wie Byron Sharp sie nennt. Im Laufe der Zeit bilden sie einen unterbewussten, schnellen und intuitiven Autopiloten, der die überwiegende Mehrheit der Entscheidungen steuert, die wir täglich treffen. Dieser Autopilot ist der Grund dafür, warum wir regelmäßig nachmittags zu einer Dose Cola gegriffen, unsere Mitgliedschaft im Fitnessstudio verlängert oder einen weiteren Wochenendausflug über unser Smartphone gebucht haben. Ohne groß zu überlegen, geschweige denn wirklich darüber nachzudenken.

Die Krise stört dieses System gewaltig. Corona führt derzeit zu einer großen Pause unserer Konsuminstinkte, Gewohnheiten und der mentalen Verankerung von Marken – einige wurden ausgelöscht, andere neu geschaffen. Die Annahme, Verbraucher würden einfach wieder zu ihrem Produkt zurückkehren, nur weil sie früher Kunden waren, kann sich als ein gefährlicher Irrtum erweisen. Je länger die Pause andauert, desto tiefgreifender ist die Neuorientierung.

„Zero Base“: alles auf Anfang

Unserem unterbewussten Autopiloten fehlen durch Corona die Verbrauchsinstinkte, Gewohnheiten und Voreinstellungen, er ist auf null gesetzt („Zero Base“). Zugleich blicken wir mit dem bewussten Teil des Gehirns aufgeklärter auf unseren Konsum und auf das, was wirklich zählt. Es ist also Zeit für einen Neustart, für ein „Zero-Based Re-Habiting“ – einen umfassenden Plan, um die Relevanz von Marken durch neue Gewohnheiten wiederherzustellen und so den Kaufwunsch wiederzubeleben.

Klar ist: Verbraucher stehen dem (Über-)Konsum durchaus kritischer gegenüber. Klimaschutz und Nachhaltigkeit bewegen viele Menschen stark, und die lange Zeit der Kontaktbeschränkung und reduzierter Ausgaben hat zu der Erkenntnis geführt, dass „ein großer Teil unseres Konsumverhaltens der kurzfristigen Befriedigung und nicht dem dauerhaften Glück dient“, wie das amerikanische Nachrichtenportal Vox es beschrieb. Daher sollten Marken mehr Menschlichkeit und Einfühlungsvermögen für Veränderungen entwickeln und in ihrem Marketing offener, kooperativer und iterativer werden.

Bereit für Wachstum

Marken können ihren Auftritt bereits jetzt den neuen Gegebenheiten anpassen und den Autopiloten sozusagen neu programmieren. Die Betonung von Hygiene und Sicherheit – den Grundbedürfnissen der Menschen – ist aktuell entscheidend.

Erst im zweiten Schritt geht es darum, Bekanntheit, Relevanz und den Wert der Marken wiederherzustellen. Zwei Beispiele:

  1. Volvo etwa hat aufgezeigt, dass seine Klimaanlagen Keime filtern und seine Autos so gesunde, sichere Kokons für den Weg durch die Stadt sind – und hat damit den Absatz in China um 20 Prozent gegenüber dem Vorjahr gesteigert.
  2. Auch die Deutsche Bahn brachte sich mit ihrer Kampagne „Deutschland neu entdecken“ erfolgreich ins Gespräch, die Mitte Juni alle gewohnten Aktivitäten ersetzt hatte und die die Menschen einlud, „die ganze Welt in Deutschland zu sehen“. Über ein lokal orientiertes Fernweh, das zugleich sicherer, umweltverträglicher und günstiger ist, sorgte sie für ein Buchungsplus.

Klar ist: Niemand freut sich über die neuen (Hygiene-)Zwänge, sie erinnern unaufgefordert an das Infektionsrisiko. Und doch stellen sie eine echte Chance für Innovation und Wettbewerbsdifferenzierung dar.

Investitionen in Share of Voice

Ein wesentlicher Beitrag zum Wiederaufbau der mentalen Präsenz von Marken werden zudem Investitionen in den Share of Voice (SOV) sein, um mit ausreichender Reichweite rechtzeitig in den Wettbewerb um Aufmerksamkeit und Marktanteile zu gehen.

Das Mittel, um früh maximale Zuwächse an Aufmerksamkeit zu erreichen, ist Excess SOV, kurz ESOV. Marken sollten entschieden investieren, um einen SOV zu erreichen, der über dem Marktanteil liegt. Dies ist ein bewährter Motor für einen Zuwachs an Aufmerksamkeit und für hohe Umsätze. Pläne und Kampagnen sollten zudem von Anfang an auf Amplifizierung durch Earned-Kanäle ausgelegt sein, um maximale Share-of-Conversation und Bekanntheitszuwächse zu erreichen.

Die Chance: neu erfinden und neu gestalten

Die aktuelle Notwendigkeit für Marken, bei null anzufangen und neu zu denken, birgt große Chancen. Jetzt gefragt sind:

  • eine herausragende Positionierung im Wettbewerb
  • die Neuausrichtung des Angebots
  • ein ausgewogener Kanal-Mix
  • eine klare Markenbotschaft, die die veränderten Prioritäten der Konsumenten aufnimmt.

Relevanz gewinnt seit Corona außerdem, wer seine Corporate Social Responsibility ernst nimmt und weiterhin aktiv zu unserem allgemeinen und gesellschaftlichen Wohlergehen beiträgt. Klaus Schwab, Präsident des Weltwirtschaftsforums, sagt dazu treffend: „Die Pandemie ist ein seltenes und schmales Fenster. Sie macht es möglich, nachzudenken, unsere Welt neu zu erfinden und neu zu gestalten.“

Weiterführende Erkenntnisse und Einordnungen zum gegebenen Thema liefert auch das Whitepaper „Wachstum trotz Corona“ von Ogilvy.

Isabelle Schnellbügel ist Chief Strategy & Transformation Officer bei Accenture Song DACH, GWA Vorständin und Sprecherin von The Strategy Collective des GWA. Sie ist eine unserer GWA-Kolumnenautorinnen und schreibt im Wechsel mit Franzsika Duerl, Nina Haller, Larissa Pohl und Liane Siebenhaar.