von Kurt-Georg Scheible
Ein Verkäufer besucht einen Neukunden. Die beiden Personen laufen aufeinander zu und blicken einander kurz an. Und schon sagt dem Vertriebler eine innere Stimme: Bei diesem Kunden kann ich mit sachlichen Argumenten punkten. In beiden Situationen wurde kein Wort gewechselt und trotzdem entstand bei den beteiligten Personen ein Bild vom Gegenüber.
Wie ist dies möglich? Wenn wir eine Person erstmals treffen, dann scannen unsere Augen sozusagen unser Gegenüber. Und binnen Sekundenbruchteilen entsteht in uns aufgrund solcher Faktoren wie Kleidung, Gang und Körperhaltung sowie Mimik und Gestik ein erstes Bild von der Person – und zwar automatisch. Denn unsere Nerven leiten unsere Sinneswahrnehmungen an unser Gehirn weiter. Dort werden sie vom sogenannten limbischen System anhand der in ihm gespeicherten Bilder und Erfahrungen eingeordnet und bewertet. Und erst danach werden sie als Information, verknüpft mit der entsprechenden Emotion, an unser Großhirn weitergeleitet und gelangen in unser Bewusstsein.
Dass diese mentalen Prozesse in uns ablaufen, dies zu wissen, ist wichtig. Sonst erliegen wir schnell der Illusion, wir würden uns unsere Meinung über andere Menschen völlig frei und rational bilden. Das Gegenteil ist der Fall! Wir treten allen Menschen, denen wir begegnen, mit einem Vor-Urteil gegenüber. Das ist nicht schlimm – solange wir uns dessen bewusst sind und bereit sind, unser Vor-Urteil gegebenenfalls zu korrigieren.
Streitfrage: Was verrät uns der menschliche Körper?
Einig sind sich die Experten darüber, dass uns die Körpersprache viel über eine Person verrät – und zwar nicht nur über deren aktuelles Befinden. Körperhaltung, Mimik und Gestik liefern uns auch erste Informationen darüber, wie unser Gegenüber tickt. Geht eine Person eher frohgemut durchs Leben oder empfindet sie dieses als Last? Steht sie gerne im Mittelpunkt oder bleibt sie lieber bescheiden im Hintergrund? Auch für solche Dinge liefert uns die Körpersprache Indizien – darüber sind sich die Experten einig.
Weit umstrittener ist: Kann man auch aus solchen Körpermerkmalen wie der Form und Größe der Stirn oder Nase Rückschlüsse auf die Persönlichkeit eines Menschen ziehen? Zudem ist dieses Thema stark emotional besetzt – vor allem aufgrund der deutschen Geschichte. Denn die Nationalsozialisten nutzten die Physiognomik, also die „Lehre“ darüber, welche persönlichen Eigenschaften sich aus den unveränderlichen physiologischen Merkmalen des menschlichen Körpers ableiten lassen, für ihre Rassenlehre. Sie ordneten den Körpermerkmalen bestimmte Charaktereigenschaften sowie Persönlichkeitsmerkmale zu und verknüpften diese mit einem Werturteil – mit den bekannten Folgen.
Entsprechend heikel ist es heute, über dieses Thema zu sprechen und zu schreiben. Trotzdem lohnt sich eine Beschäftigung mit ihm. Denn unabhängig davon, wie wir zur Physiognomik stehen, bleibt die Tatsache bestehen: Die Körpermerkmale lösen in uns Assoziationen aus. Das beweist bereits unsere Sprache. Wenn wir eine Person beschreiben, benutzen wir oft Begriffe wie „engstirnig“ und „schmallippig“. Oder wir attestieren einer Person, sie habe ein „energisches Kinn“ oder eine „Denkerstirn“. Und die Augen sowie das Gesicht gelten allgemein als „Spiegel(-bild) der Seele“.
Eine uralte (Pseudo-)Wissenschaft?
Das kommt nicht von ungefähr. Schon seit Jahrtausenden findet die These Anhänger, dass speziell das Gesicht eines Menschen uns viel über dessen Wesen verrät. In der traditionellen chinesischen Medizin werden drei Bereiche im Gesicht unterschieden: die Stirn, die mittlere Gesichtspartie, die von den Augen bis zur Nase reicht, und die untere Gesichtspartie, die unter anderem Mund, Kiefer und Kinn umfasst. Die Stirn galt als der Bereich, der den Geist sowie Intellekt widerspiegelt, und die mittlere Partie als der Bereich, der Auskunft über die Seele gibt.
Die untere Gesichtspartie hingegen wurde als Repräsentanz des Körpers gesehen. Wirkte das Verhältnis zwischen diesen drei Zonen auf den Betrachter ausgewogen, so wurde dies als Indiz für eine ausgeglichene Wesensart verstanden. Stach hingegen eine Gesichtspartie besonders ins Auge, dann wurde dies als Indiz für eine überproportional starke Ausprägung gewisser persönlicher Merkmale sowie Eigenschaften gesehen.
Diese Grundüberzeugung teilen noch heute alle Physiognomiker. Sie sind zum Beispiel der Auffassung, dass eine Stirn, die die Wahrnehmung dominiert, auf ein hohes Abstraktionsvermögen und ausgeprägte intellektuelle Fähigkeiten hinweist. Menschen mit einer dominanten mittleren Gesichtszone hingegen gelten als gefühlsbetont und mit einem gesunden Menschenverstand sowie Gespür fürs Machbare ausgestattet. Und Menschen mit einer dominanten unteren Gesichtspartie – also zum Beispiel einem markanten Kinn? Sie gelten als kurzentschlossen und handlungsorientiert sowie zu einem impulsiven Handeln neigend.
Was fasziniert Menschen am „Gesichterlesen“?
Die Physiognomik fand über Jahrtausende Anhänger, weil ihre Aussagen die Alltagerfahrung vieler Menschen widerspiegeln. Hinzu kommt: Wir können unsere Körpermerkmale (sieht man von operativen Eingriffen ab) im Gegensatz zu unserer Kleidung, Mimik und Gestik nicht beeinflussen. Deshalb vermittelt die Physiognomik ihren Anhängern die Illusion, mit ihrer Hilfe einen unverfälschten Blick auf das Wesen anderer Menschen zu erlangen. Außerdem machen die von ihr bereit gestellten Interpretationsschemata das Einschätzen von Menschen scheinbar leicht. Denn um die dominante Zone im Gesicht eines Menschen zu erkennen, muss man diesen nicht lange studieren. Ein Blick genügt und schon lassen sich erste Thesen darüber bilden, wie die andere Person vermutlich tickt.
Die Pysiognomik findet deshalb einen besonders großen Zuspruch bei Angehörigen von Berufen, die häufig andere Personen schnell einschätzen müssen. So zum Beispiel Verkäufer. Sie müssen oft binnen Sekundenbruchteilen entscheiden, wie sie zum Beispiel potenzielle Neukunden ansprechen. Entsprechendes gilt für Personalberater und Personalverantwortliche in Unternehmen. Auch sie müssen sich zum Beispiel in Bewerbungsgesprächen oft in kurzer Zeit ein erstes Bild von einer Person machen. Hierfür nutzen sie häufig (bewusst oder unbewusst) die Physiognomik – und machen damit nach eigenen Aussagen positive Erfahrungen.
Kernfrage: Wie gehen wir mit unseren Assoziationen um?
„Alles Humbug“, erwidern auf solche Aussagen die Gegner des Gesichterlesens. „Hierbei handelt es sich bestenfalls um selbsterfüllende Prophezeiungen.“ Dennoch sollten auch sie sich mit der Physiognomik befassen. Denn unabhängig davon, ob ihre Annahmen richtig sind, bleibt die Tatsache bestehen: Die Körpermerkmale rufen in uns bestimmte Assoziationen und somit Emotionen hervor. Und diese führen wiederum dazu, dass wir manche Personen zum Beispiel auf Anhieb als sympathisch oder unsympathisch, interessant oder uninteressant empfinden.
Autor: Kurt-Georg Scheible ist Inhaber des Trainings- und Beratungsunternehmens Erfolgscampus in Stuttgart und Frankfurt am Main.