Frau Engelt, warum brauchen wir Normen für eine grüne Transformation der Wirtschaft?
Selbst konservative Unternehmen sehen inzwischen ein, dass sie sich mit Circular Economy beschäftigen müssen. Schon heute gibt es zirkuläre Modelle, die funktionieren. Je mehr neue Ideen aber entstehen, je mehr Menschen an ihnen arbeiten, desto wichtiger ist eine gemeinsame Sprache, wie sie Normen und Standards darstellen. Nur dann kann man Anforderungen definieren und Qualitäts- oder Prüfkriterien festlegen.
Normen bieten ein enormes Potenzial für Unternehmen, die sich zirkulärer aufstellen wollen. Geschäftsmodelle wie die Nutzung von Kunststoff-Rezyklaten im Lebensmittelbereich können sich viel schneller etablieren, wenn es klare Festlegungen gibt, etwa dafür, wann eine Waschmittelflasche zur Käseverpackung werden kann. Insofern sind Normen und Standards ein sehr wirkungsvoller Hebel, um nicht nur Kosten zu sparen, sondern auch Ressourcen.
Sie klingen geradezu begeistert.
Ich wäre nicht beim DIN, wenn ich den Mehrwert von Normen nicht sehen würde. Wir sind jetzt an den Themen dran, die den Markt prägen werden. Wir formulieren Anforderungen für Produkte, die in wenigen Jahren wie selbstverständlich genutzt werden. Das finde ich absolut spannend.
Seit Januar 2022 arbeiten Sie mit rund 550 Expert*innen an der Normungsroadmap Circular Economy, die als Wegweiser für den Umbau zur grünen Volkswirtschaft dienen soll. Wie gehen Sie vor?
Wir haben zunächst geschaut, wer die Akteure der Circular Economy sind, was auf dem Markt passiert und welche Initiativen es gibt, etwa den Green Deal der EU. Anschließend haben wir sieben Schwerpunktbereiche ausgewählt…
… darunter Kunststoffe, Verpackungen, Textilien, Bauwerke und Kommunen.
In diesen Bereichen haben wir die Akteure aufgerufen, uns die Herausforderungen zu beschreiben, vor denen sie stehen, wenn sie ihre Geschäftsmodelle zirkulär ausrichten wollen. Etwa: Was ist überhaupt Recyclingfähigkeit? Das ist ganz wichtig: Die Bedeutung von Begriffen klären, eine gemeinsame Sprache finden.
Heißt konkret?
In der Arbeitsgruppe Verpackungen zum Beispiel ging es um Standards für Mehrwegverpackungen oder Unverpackt-Lösungen. Wären sie sinnvoll, um das Thema Kreislauffähigkeit voranzutreiben? Wie könnten einheitliche Vorgaben aussehen? Auf diese Weise haben wir insgesamt rund 200 Normungsbedarfe identifiziert, die wir am 19. Januar 2023 vorstellen werden. Ich kann Ihnen Querschnittsthemen nennen, die sich über alle Arbeitsgruppen gezogen haben: Nachhaltigkeitsbewertungen, Recyclingfähigkeit, Lebensdauerverlängerung, die Vermeidung von Abfall oder der digitale Produktpass.
Was ist darunter zu verstehen?
Ein Produktpass ist eine Sammlung von Informationen, unter anderem, um Ressourcen wieder zu verwenden: Welche Materialien sind enthalten, was wurde verändert? Es geht aber auch um Dateiformate, um Schnittstellen. Ein Gebäudepass etwa sollte idealerweise noch in hundert Jahren abrufbar sein. Wie lässt sich das sicherstellen? Bei solchen Fragen stehen wir noch ganz am Anfang.
Hemmt es nicht die Kreativität von Unternehmen, wenn sie sich mit solchen Vorgaben auseinandersetzen müssen?
Es geht nicht darum, Innovation in eine Norm zu packen, das ist ein häufiges Missverständnis. Wir picken uns aus den innovativen Themenfeldern Aspekte heraus, bei denen eine Vereinheitlichung sinnvoll wäre, wie Ladestecker bei Elektrofahrzeugen. Die Fahrzeuge selbst sind vollkommen unterschiedlich. Es entsteht ein Mehrwert für alle, nicht zuletzt für die Endkonsumierenden, die nicht erst nach einer passenden Ladesäule suchen müssen.
Es ist immer gut, sich frühzeitig mit Standardisierung zu beschäftigen. Und nicht erst, wenn Produkte fertig sind, wie bei den Handys, die vor 25 Jahren jedes mit einem eigenen Ladestecker auf den Markt kamen. Das Beispiel zeigt sehr gut, welchen volkswirtschaftlichen Schaden das anrichtet und wie viele Ressourcen verschwendet werden.
Wie viele der Expert*innen, die in den Arbeitsgruppen zur Roadmap mitgewirkt haben, kamen aus der Wirtschaft?
Mehr als die Hälfte. Es hilft den Unternehmen und kann einen echten Wettbewerbsvorteil darstellen, wenn ihre Lösungen in eine Norm einfließen – vor allem dann, wenn sich diese Norm auch international durchsetzt. Wir haben mit der Roadmap ein nationales Meinungsbild geschaffen, das auch als Hebel dienen kann, unsere Wünsche auf europäischer Ebene einzubringen.
Die Abstimmungen können manchmal ein bisschen dauern. Dafür kann man sich sicher sein, dass die Norm von allen verstanden wird, praxistauglich ist und sich genau deshalb etabliert. Wir wollen die deutsche Wirtschaft dabei unterstützen, Produkte in den Markt zu bringen.
Wie lange wird es dauern, bis Unternehmen mit aus der Roadmap abgeleiteten Ergebnissen in der Praxis arbeiten?
Nach der Präsentation im Januar beginnt die Arbeit in den Normenausschüssen. Die ersten nationalen Normen könnten in 18 Monaten vorliegen, erste DIN-Spezifikationen – eine Art Vor-Norm für innovative Lösungen – sogar noch früher. Das Wichtigste ist, die neuen Themen beim DIN so zu verankern, dass das Thema Circular Economy künftig in allen Normenausschüssen immer mitgedacht wird.
Manche Unternehmer*innen befürchten zusätzliche Bürokratie durch mehr Normen.
Sie haben ja die Chance mitzubestimmen. Normen dienen, ganz im Gegenteil, der Beschleunigung und dem Bürokratieabbau, weil Unternehmer*innen Lösungen nicht lange diskutieren und nachweisen müssen, sondern sich auf DIN berufen können. Gerade für mittelständische Unternehmen ist das effizient. Übrigens: Nur bei einem kleinen Teil der Normen ist die Anwendung Pflicht.