Der Versandriese UPS sagt, dass 38 Prozent aller Kaufprozesse Aktivitäten in beiden Kanälen, online wie offline, umfassen. Google berichtet, dass über die Hälfte aller stationären Käufe von digitaler Recherche getrieben werden. Und laut Accenture haben 17 Prozent der Millennials kein Problem damit, im Laden digital erkannt zu werden und individuelle Empfehlungen zu bekommen. Knapp 27 Prozent der heute 20- bis 30-Jährigen wären zudem froh, wenn ihr Smartphone sie im Supermarkt davor warnen würde, falsche Produkte zu kaufen, weil sie nicht zu einer persönlichen Ernährungsintoleranz passen.
Die physische und die digitale Welt sind in der Handelswelt nicht mehr zu trennen. Und die Gestaltung von Handelsflächen wird sich in den nächsten Jahren aufgrund der Digitalisierung drastisch ändern, glaubt Marc Hoogenberg, Principal bei Pricewaterhouse Coopers (PwC). Willkommen im „No-Line Commerce“, der nahtlosen Verknüpfung von Online und Offline zu einem integrierten Kauferlebnis. Völlig egal, woher der Kunde kommt, welchen Kanal er für die Bestellung nutzt und wie er das gewünschte Produkt erhält – idealerweise ist sein Kundenerlebnis wie aus einem Guss. Die User Experience (UX) kristallisiert sich immer stärker als Kerndisziplin des digitalen Wandels heraus. Nur hat das die Mehrheit der UX-Verantwortlichen in Unternehmen noch nicht verstanden.
Online-Offline-Verknüpfung in der Rose Bike-Town
Bei Rose Bikes GmbH allerdings schon. Jahrelang war der Versandhersteller – er verkauft wie Dell Eigenmarken im Direktvertrieb – dem Fahrradhandel ein Dorn im Auge. Heute gilt das Retail-Konzept der Rose Biketowns in Bocholt und München als wegweisend, nicht nur für die Branche, sondern auch für den Handel allgemein. Das Fahrrad ist ein sehr haptisches Produkt. Daher ist Rose Bikes gezwungen, die Digitalisierung im Laden mit Umsicht voranzutreiben. Das tut man, in dem man auf Tools zur Produktindividualisierung setzt. So wird etwa der Körper des Radfahrers im Laden vermessen. Und der Kunde kann beim nächsten digitalen Einkauf entweder selbst die bessere Passform wählen oder er bekommt die passenden Produkte präsentiert.
Umgekehrt funktioniert die Integration noch eleganter. Der Kunde beginnt eine Konfiguration eines Rads am heimischen PC und vollendet diese in der Bike-Town, gemeinsam mit einem Kundenberater. Visualisiert wird das persönliche Rad fast lebensgroß auf Bildschirmen. Innerhalb dieser starken Online-Offline-Verknüpfung gibt es einen schönen Kniff: Das virtuelle Mitnehmen der Konfigurationsdaten geschieht in der Cloud, also über das Kundenkonto. Das ist ein starker Treiber für Registrierungen und dafür, dass sich der Kunde am Point-of-Sale (PoS) zu erkennen gibt. Das Konzept scheint zu funktionieren: 2015 stieg der Rose-Umsatz gegenüber dem Vorjahr um zehn Prozent auf 77 Millionen Euro, allerdings bei verringerter Marge.
Boom der Showrooms
Die nahtlose Individualisierung der Produkte, wie sie Rose Bikes praktiziert, ist zweifellos die Königsdisziplin von Crosschannel, denn sie erzeugt eine Kundenbindung, die zum Beispiel Amazon nicht schaffen kann. Händler und Hersteller mit Standardprodukten tun sich da naturgemäß schwerer. Ein weiteres interessantes Beispiel ist Sonos. Der Hersteller von digitalen Soundsystemen präsentiert in seinem Laden in New York Soundkabinen, die wie Lebensräume gestaltet sind: das Wohnzimmer, das Schlafzimmer, das Büro. Jeder Raum ist schallisoliert und erlaubt somit eine effektive Produktsimulation. Die Online-offline-Verbindung entsteht durch die genaue Betrachtung der Kundenreise.
Sonos ist ein High-End-System, das selten von der Stange gekauft wird. Also kann der Kunden auch hier die Vorkonfiguration des „Studios“ samt Terminabsprache online vornehmen und findet dann „sein“ Studio vor, wenn er in den Laden kommt. Und das ist nicht alles. Sollte er die Konfiguration beim Live-Besuch ändern, so kann er sich das neue Setup über Tablets in den Studios nach Hause mailen. Sonos weiß genau, dass die teuren Produkte häufig nicht sofort gekauft werden, sondern zum Beispiel im Familienrat Diskussionsgegenstand sind. Also macht man Showrooming zum Teil der Wertschöpfung.
Marc Hoogenberg von PwC erwartet, dass künftig viel mehr solcher Showrooms auf die Fläche kommen. Dazu noch temporäre Pop-up-Stores, mobile Verkaufsflächen „auf Rädern“ und Komplementärsysteme, bei denen etablierte Händler Flächen für Partner zur Verfügung stellen, die ihnen keine Konkurrenz machen. Diese Veränderungsprozesse haben mit zwei digitalen Mechanismen zu tun: Zum einen macht die Digitalisierung Fläche frei, weil zum Beispiel Produktvarianten nur im Lager vorgehalten und digital demonstriert werden. Zum anderen sind die mobilen und temporären Läden in der Lage, trotz des Standortwechsels des Kunden Kontakt mit ihm zu halten – dank des Smartphones.
Click & Collect mal anders
Für viele Händler sind Cross-Systeme von der Größenordnung Rose oder Sonos kaum realisierbar. Sie suchen kleinere, einfachere Spielarten der Online-offline-Verbindung. Dabei rückt immer zunächst Click & Collect in den Fokus, also Produktrecherche und Bestellung über das Internet, Ware abholen im stationären Geschäft. Google und Ebay werden nicht müde, zu betonen, welch großer Hebel darin liegt, wenn man in den digitalen Kanälen die Produktverfügbarkeit im Laden vor Ort anzeigen kann. Der Computerhändler Gravis hat damit die Klick-Performance seiner Shopping-Anzeigen bei Google mühelos verdoppelt.
Es ist naheliegend, dass hier im Moment vor allem im direkten Vergleich mit dem Wettbewerb Pioniergewinne zu erzielen sind. Mittelfristig dürfte Click & Collect jedoch zum Hygienefaktor werden. Die Komplexität des Prozesses ist dabei nicht zu unterschätzen: Die Mitarbeiter im Laden müssen schnell auf Online-Bestellungen reagieren und die Ware aus dem Regal nehmen.
Aber Click & Collect bietet natürlich noch viel mehr Spielarten. Das Start-up TeaTales etwa hat im Berliner Hauptbahnhof eine Zeit lang einen mobilen Kiosk betrieben. Der Zugreisende konnte sich über eine App einen Tee zum Mitnehmen bestellen, der exakt dann zubereitet wurde, wenn der Zug im Bahnhof einlief – Verspätung inklusive.
Die Variante Click & Pick & Collect eignet sich sehr gut für Warenhäuser, Einkaufspassagen und Supermärkte. Beim Möbelhaus Ostermann in Witten kann man online bestellen, die Ware wird aus dem Regal geholt und zusammengestellt. Der Kunde kann sie abholen, auch ohne den Laden selbst betreten zu müssen. Die C&C-Schließfächer stehen nämlich neben dem Info-Counter. Alternativ führt die Ostermann-App den Kunden in der Filiale zu den Produkten, die er sich online ausgesucht hat. Derartige Indoor-Navigation ist allerdings nur ein Thema für großflächige Läden wie Möbelhäuser oder Baumärkte.
Bei der Deutschen Bahn könnte das Experiment Click & Pick & Clean & Collect heißen. Am Berliner Südkreuz gibt es seit wenigen Wochen smarte Schließfächer mit Anschluss an eine Wäschereinigung, eine Autovermietung und Edeka, Letzteres verbunden mit dem Frischesystem Emmas Box. Verwandelt sich ein Gutteil des Handelsgeschäfts in Richtung Webshop plus Schließfach?
Kooperation statt Investition
Walmart investierte 2015 nicht weniger als 10,5 Milliarden US-Dollar in Technologie. Aber vielleicht muss man gar nicht alles selbst machen, um interessante Online-offline-Kombinationen zu erzeugen und der Kundenbindung einen Schub zu geben. Eine interessante Alternative bietet die Online-Plattform Commerce Connector. Über sie können unter anderem Markenhersteller auf ihren Websites anzeigen lassen, bei welchen Shops – stationäre oder online – ihre Produkte verfügbar sind. Dabei ist der Connector mehr als nur ein Filialfinder. Er erlaubt prinzipiell jedem Händler, dort seine Daten einzuspielen, auch wenn er nur über ein paar ausgewählte Stücke aus dem Markensortiment verfügt.
Crosschannel kann also viel mehr sein als Click & Collect. Intelligente Verknüpfungen zwischen Laden- und Online-Angebot schaffen direkte Kundenbindung und sind in der Lage, das Kauferlebnis zu personalisieren und zu verbessern. Dabei ist es vielfach gar nicht nötig, den Kunden selbst mit Displays zu konfrontieren. „Wir stellen mehr Interesse an Backend-Lösungen fest“, erläutert Ingo Ax, Business Unit Manager E-Commerce & PIM beim Dienstleistungs- und Beratungsunternehmen Arithnea. „Die Händler wollen vor allem gerne ihr Tracking im Laden verbessern, um diese Daten in die Customer-Journey-Analysen einfließen zu lassen.“
Entgegen der landläufigen Meinung sieht Ax keine Digitalignoranz im Handel: „Die digitale Reife der Händler ist schon ziemlich gut. Sie wissen genau, wo die Fallstricke bei der Digitalisierung sind.“ Für Ax ist die Zusammenführung von Daten aus allen Kanälen der Schlüssel, damit der Handel auch in digitalen Zeiten ein gutes Kauferlebnis schaffen kann. Im Herzen dieses Kauferlebnisses steht nicht zuletzt der Verkäufer, der Zugang zu diesen Daten haben muss und geschult werden muss. „Es ist doch Wahnsinn, zu sehen, was Händler und Marketing heute online im Bereich Content Marketing aufbauen“, meint E-Commerce-Veteran Eric Jankowfsky, Geschäftsführer von Talihu. „Und dabei wird komplett vergessen, dem Verkäufer im Laden das gleiche Wissen zur Verfügung zu stellen.“
Wie die Möglichkeiten der Digitalisierung ausgeschöpft werden können, zeigt die EuroShop 2017 in Düsseldorf. Die Messe ist für Fachbesucher von Sonntag, 5. März, bis Donnerstag, 9. März, täglich von 10 bis 18 Uhr geöffnet. Die Tageskarte kostet 70 Euro (50 Euro im Online-Vorverkauf), die 2-Tageskarte 90 Euro (70 Euro im OVV) und die Dauerkarte 150 Euro (130 Euro im OVV). Die Eintrittskarten beinhalten die kostenlose Hin- und Rückfahrt zur EuroShop mit Verkehrsmitteln des Verkehrsverbund-Rhein-Ruhr (VRR). Erstmals veranstaltet wurde die EuroShop im Jahr 1966 von der Messe Düsseldorf, sie findet im Drei-Jahres-Turnus statt. Ideeller Träger ist das EHI Retail Institute.