Willkommen im „Age of Less“

Vier von fünf Frauen in den USA haben ihr Einkaufsverhalten grundlegend verändert. Auf einer Trendtagung des GDI Gottlieb Duttweiler Institute diskutierten Experten, welchen Wandel Konsumenten durchmachen, wie Hoffnung funktioniert und was Anbieter jetzt beachten sollten.

Von Alain Egli, GDI Gottlieb Duttweiler Institute

Die ungeheure Kraft der Hoffnung – nicht zuletzt machte sie den ersten schwarzen USPräsidenten möglich –, ihre Funktionsweise und ihre Marktpotentiale waren das Thema der 5th European Consumer Trend Conference des GDI Gottlieb Duttweiler Institute in Rüschlikon/Zürich. «Change» und «chance» liegen im Englischen unübersetzbar nahe beieinander. Wendy Liebmann brachte es auf den Punkt: «Wir erleben einen dramatischen Kulturwandel.» Und das nicht erst seit Ausbruch der aktuellen Finanzkrise.

Dotcom-Blase, 9/11, Irak, Katrina, Afghanistan, Produktrückrufe, Benzinpreisschock, Subprime-Crash, Finanzkollaps – acht «verdammte» Krisenjahre hätten den legendären amerikanischen Optimismus gedämpft. Jetzt seien die US-Konsumenten unglücklich und wütend. Aber sie lernten, mit der Krise umzugehen. Vier von fünf Frauen hätten ihr Einkaufsverhalten grundlegend verändert und wollten nur noch kaufen, was sie wirklich brauchen.

Die Ergebnisse der repräsentativen Umfrage unter 1500 US-Konsumenten, welche die Marktforscherin Liebmann von WSL Strategic Retail am GDI vorstellte, sprechen eine klare Sprache: Drei Viertel der Befragten sparen bei Restaurantbesuchen, Inneneinrichtung und
Kleidern. Selbermachen ist en vogue, teure Marken werden hingegen substituiert, die Versuchung der Läden gemieden und angebrochene Packungen aufgebraucht, bevor Nachschub gekauft wird.

Selbst in Haushalten mit mehr als 100’000 USD Einkommen suchen zwei Drittel der Frauen beim Einkauf den günstigsten Preis. Und drei von fünf Amerikanerinnen empfinden Stolz beim Sparen. Das ist neu. Die Turbulenzen auf den Finanzmärkten sind nur die Spitze des Krisenbergs, wie auch GDI-CEO David Bosshart in Rüschlikon unterstrich. Die Basis bilde ein tiefgreifender Paradigmenwechsel.

Es wachse die Menge dessen, was der damalige US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld als «unknown unknowns» bezeichnete. Veränderungen geschehen immer schneller, «discontinuous innovations» einzelner Anbieter wie Starbucks, Apple oder H&M werfen etablierte Geschäftsmodelle ganzer Branchen plötzlich über den Haufen. Prognosen werden schwieriger, die Unsicherheit nimmt zu.

Zudem haben wir ein «Age of Less» betreten, ein Zeitalter des Weniger: knappere Rohstoffe, knappere Gelder, knapperes Vertrauen. Bereits wachsen die Einkommensdisparitäten, ein Viertel der deutschen Haushalte kann sich gemäss einer GfK-Untersuchung fast nichts mehr leisten. Gleichzeitig öffnet sich eine Welt der Interaktion, in der Zugang wichtiger wird als Besitz, wie der Trendbüro-Gründer Peter Wippermann an der GDI-Trendkonferenz darlegte. «Connectivity» (Anschlussfähigkeit) sei der Schlüssel: Den Selbstinszenierungen der vergangenen Jahre folge jetzt das Bedürfnis, nicht allein zu sein.

Das Internet ist daher für Menschen unter vierzig zum Leitmedium geworden, 14- bis 19-Jährige ziehen einen Online-Chat schon heute dem persönlichen Gespräch vor. Auch US-Präsident Barack Obama setzte in seiner Wahlkampagne neben der klassischen «Medienmesse» (zum Beispiel bei der Siegessäule in Berlin) interaktive Kanäle ein – und wurde vom führenden Branchenmedium «Advertising Age» bereits vor seinem Wahlsieg zum «Marketer of the Year» gekürt.

Menschen – dies ein weiterer Bestandteil des fundamentalen Umbruchs – wollen immer mehr Partner sein, als Bürger ebenso wie als Kunden; «Feedbackkonsum» heisst das Stichwort. Kooperation wird zum zentralen Thema in einer Zeit, in der es einer alleine ohnehin kaum mehr schaffen kann. «Yes, we can» lautete bezeichnenderweise Obamas Slogan – und nicht etwa «Yes, I can». Zusammenarbeit und Gemeinsinn führen zum Erfolg, was zählt, ist die Solidarität der Egoisten. Haltung und Leidenschaft zählen, Kooperation schafft Moral.

Was in den 1970er-Jahren die Graswurzelbewegung war, findet heute im digitalen Netzwerk statt. Das Internet ist eine Kirche, keine Shopping-Mall, es geht um den Glauben an eine bessere Welt. In der «Co-Creation», im gemeinsamen Erschaffen, entstehen aus individuellen Zielen kollektive Erfolge. Das illustriert der Triumph der Wikipedia über den Brockhaus: Die Leute wolllen nicht mehr eine bibliophile Ausgabe eines Buches besitzen, sondern Wissen teilen. Sozialer Reichtum löst Eigentum ab.

In dieser immer unübersichtlicheren Welt schwinden die Handlungsspielräume des Einzelnen, wie David Bosshart sagte. Konsumenten und Unternehmer werden gleichermassen zu Sklaven. Die Folge: ein massives Motivationsdefizit, insbesondere in den übersättigten Teilen der Westlichen Welt. Umso wichtiger ist es nun, den Blickwinkel zu ändern: Das berühmte Glas ist nicht nur einfach halb voll statt halb leer; es ist zudem grösser geworden – dies belegt sehr handfest das Wachstum der US-Standardflaschen von 33cl zu nahezu zwei Litern in den vergangenen Jahrzehnten. Der Perspektivenwechsel bedeute aber auch, «less as more» wahrzunehmen, weniger als mehr.

Die Motivationskrise ist heute eine der zentralen Bedrohungen überhaupt. Wer nicht will, schafft auch nichts – im doppelten Wortsinn. Umso grösser wird die Verantwortung von glaubwürdigen Vorbildern, die mit gutem Beispiel voran gehen und sich nicht bloss am Machbaren
orientieren, sondern am Möglichen. Menschen sind beeinflussbar, das zeigt das Beispiel der Fettleibigkeit: Wer übergewichtige Freunde hat, wird selber schneller dick. Diese «soziale Ansteckung» gilt aber auch für die Hoffnung. Nur ihre positive Haltung brachte den Amerikanern die Mondlandung. Wie sagte Gottlieb Duttweiler, einer der erfolgreichsten und gleichzeitig sozialsten Schweizer Unternehmer seiner Zeit, schon 1955: «Der „Phantast“ ist der wahre Realist.»

Dass Hoffnung mehr als Hokuspokus ist, zeigen Ergebnisse aus der medizinischen Forschung sehr eindrücklich: So lange ein Patient glaubt, er erhalte ein wirksames Medikament, helfen ihm auch Placebos. Entsprechend sind grosse Tabletten wirksamer als kleine, Kapseln besser als Pillen, bunte besser als weisse, Spritzen besser als Tropfen. Und der weisse Kittel oder die Instrumente des Arztes untermauern seine Kompetenz. Der Mensch verfügt über enorme Selbstheilungskräfte.

Sich selbst erfüllende Prophezeiungen wirken weit über die Medizin hinaus, wie wir im Alltag immer wieder erfahren: Wer ein Scheitern erwartet, wird sein Ziel wohl auch nicht erreichen. Und umgekehrt. So gesehen ist Hoffnung eine Art positiver Defekt des Denkens. «Überschätzung, also Optimismus, ist die Essenz von Hochzeiten, Taufen, Bar-Mizwas und sogar der besten Begräbnisse», schrieb der Anthropologe Lionel Tiger 1995 in seinem Buch «Optimism. The Biology of Hope».

Strategische Überschätzung sei für Lotto-Spieler ebenso charakteristisch wie für Kinder am ersten Schultag, für Anhänger einer Sportmannschaft oder für Staatsführer bei der Inauguration. Ein gesunder Mensch überschätze seine Erfolgschancen laufend – wodurch diese aber paradoxerweise anstiegen.

Hoffnung wird damit zur Bedingung für das Handeln – ein «konkreter Konstruktivismus des Alltags», wie der Philosoph Norbert Bolz an der GDI-Trendtagung feststellte. Umso mehr, als wir weniger denn je Bescheid wissen über unsere Zukunft. Gerade diese Unsicherheit, so Bolz weiter, habe eine eigentliche Angstindustrie entstehen lassen, in der Gefälligkeitswissenschaftler, Politiker und Medien gleichermassen von apokalyptischen Erzählungen profitierten.

Der britische Soziologieprofessor Frank Furedi stellte 2005 in seinem Buch «Politics of Fear» fest, dass Politiker immer häufiger mit Angstszenarien argumentieren würden, um unsere irrationalen Herdeninstinkte anzusprechen. Der Mensch, so Bolz, ist das einzige Tier, das Hoffnung und Angst empfindet. Die Lust an der Angst lasse sich ihm auch kaum ausreden, die abendlichen Fernsehnachrichten zelebrierten die Vermittlung von Hilflosigkeit.

Folgerichtig kommt das Wort «Angst» in deutschsprachigen Blogs gemäss einer Analyse, die das GDI Gottlieb Duttweiler Institute in Zusammenarbeit mit dem Center for Collective Intelligence des Massachusetts Institute of Technology durchführte, doppelt so häufig vor wie das Wort «Hoffnung» – wohingegen die Ausdrücke in der englischsprachigen Welt gleich häufig auftauchen. Immerhin sieht David Bosshart das Ende der Zeit gekommen, in der Angst und Abschottung gemeinsam mit Gier und Frivolität die Oberhand hatten. Stattdessen träten wir jetzt ein in eine Ära der Hoffnung und des Glaubens.

Hoffnung ist denn gemäss Norbert Bolz auch die viel produktivere Technik zur Bewältigung des Lebens, zumal sie sich trainieren lasse. Religionen hätten das schon lange erkannt, rituelles Beten sei ein wirksames Placebo. Als Alternative zur Religion sieht Bolz das Hoffnungstraining der Trendforscher, die ebenfalls positive Prognosen vermittelten. Dabei sei eine funktionierende Fehlerkultur ausschlaggebend für den Erfolg: Fehler sollen primär einen Anreiz für Innovation darstellen und erst im Wiederholungsfall ein Zeichen von Torheit sein.

Das gilt insbesondere auch für alle Anbieter, die angesichts einer schwer prognostizierbaren Zukunft mehr denn je auf ihre Intuition vertrauen müssen. Damit rückt laut Bolz die Figur des Unternehmers mit seinem Mut und seinem (Selbst-) Vertrauen wieder stärker ins Zentrum. Wie Don Quijote brauche der Unternehmer «Technologies of Foolishness», um sich von der Vernunft der Umwelt abzuschirmen; nämlich die Hoffnung.

Hoffnung ist aber auch die Triebfeder der Konsumentinnen und Konsumenten. Seit jeher hatten die Menschen Sehnsüchte: das Gefühl, etwas Bestimmtes fehle ihnen im Leben. Hier erwachsen für Unternehmer Chancen, wie die GDI-Forscherin Nicole Lüdi zeigte, und zwar, indem Anbieter den als unrealistisch empfundenen Sehnsüchten realistische Optionen gegenüberstellen. Dann werde aus Sehnsucht Hoffnung – und aus Hoffnung im besten Fall ein Kaufakt, bei dem Konsumenten auch etwas mehr Geld auszugeben bereit seien.
Wo aber entstehen diese Chancen? Prinzipiell im Kleinen, wie David Bosshart erläuterte. Wo das Grosse (Stichworte: Globalisierung und Hyperkomplexität) immer stärker verblasse, wüchsen die kleinen Hoffnungen.

Als typische Hoffnungsmärkte nannte Bosshart Technologie, Wohltätigkeit, Religion, Bildung, Gesundheit und Schönheit – sowie auch Finanzen. Zentral ist aber in jedem Fall die Innovation, wie Wendy Liebmann und ihre britische Kollegin Kate Ancketill, die Gründerin von GDR Creative Intelligence, übereinstimmend betonten. Beide Marktforscherinnen zeigten an der GDI-Trendtagung eine Reihe von Fallstudien aus dem Handel, bei denen Neuerungen erfolgreich umgesetzt worden sind. Kurzlebige Pop-up-Stores spielen dabei eine ebenso wesentliche Rolle wie die wieder entdeckte Salonkultur (als Gegenbewegung zum Cyberspace) oder das Zusammenbringen von Talenten.

Konkretes Potential besteht ausserdem in einer Reihe von Sehnsuchtsmärkten – in Segmenten also, wo den Träumen der Konsumenten noch keine konkreten Angebote gegenüberstehen. Gemäss einer breit angelegten Untersuchung des GDI zum aktuellen Wertewandel gibt es solche Angebotslücken vor allem bei der zunehmenden Sehnsucht der Menschen nach «Reconnection» mit einem idealisierten Ursprung – als Gegensatz zu einer Welt, die als entfremdet wahrgenommen wird und in der man sich machtlos fühlt.

Als «Werte-Verlierer» in der neuen Sehnsuchts-Kosumgesellschaft müssen beim Essen laut Nicole Lüdi zum Beispiel Fertiggerichte oder Light-Produkte gelten; die würden zwar nicht verschwinden, seien aber immer weniger geschätzt und böten den Anbietern kein Differenzierungspotential. Gute Chancen haben gemäss Lüdi hingegen Angebote, die die Sehnsüchte nach Gemeinschaft und Ritualen bedienen, nach Natürlichkeit und Authentizität, nach Selbermachen, Entindustrialisierung und Übersichtlichkeit. «Um erfolgreich zu sein, müssen Produkte heute von den Käufern paradoxerweise eine gewisse Anstrengung verlangen», stellte David Bosshart fest.

Und Nicole Lüdi prophezeite: «Die Sehnsuchtsgesellschaft wird die Hoffnungsgeschichten gerne hören.» Umso mehr sollten sich Anbieter aber vor der Gefahr neuer Marketinghülsen hüten. Reines Greenwashing als «billige» Variante des Hoffnungsgeschäfts werde letztlich nur Enttäuschungen bringen und das Misstrauen weiter schüren. Wer darum die Chancen der Sehnsucht nach Reconnection langfristig erschliessen wolle, müsse echt sein. Ansonsten drohe Konsumverzicht.

Damit wurde an der GDI-Trendtagung eines klar: Das Prinzip Hoffnung allein wird die aktuellen Krisen selbstredend nicht so schnell wegtherapieren können. Doch Hoffnung kann die nötigen positiven Veränderungen als Katalysator vorantreiben – viel wirksamer als Pessimismus also allemal.

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