Waren Sie schon mal am Times Square in New York? Oder in Tokyo’s Shinjuku, London’s Picadilly Circus, Shanghai’s Nanjing Road? Überall das gleiche Bild: Mekka der Touristen, aber auch Abbild und Mikrokosmos der kommerziellen Welt: Leuchtschriften, LCD-Screens, Billboards, Straßenkünstler, Schaufenster. Für mich das Symbol der unbegrenzten Konsum- und Marketing-Möglichkeiten, aber auch der Tragödie der Markenvielfalt und des Überschusses. Der Times Square als Schlachtfeld von Produkten und Marken: unendlich vielfältig, undurchsichtig, verwirrend… aber auch differenzierend?
In der, wie ich Sie nenne, „Times Square Welt“ herrscht noch immer das verbreitete aber zunehmend ineffiziente „Produktparadigma“ vor. Unternehmen versuchen ihre Produkte durch den Aufbau von Wettbewerbsvorteilen zu differenzieren. Der Aufbau starker Marken und die Optimierung des Vertriebs sollen dabei Vorschub leisten. Aber wie können sie in einem Markt dauerhafte, verteidigbare Wettbewerbsvorteile aufbauen, wenn eine beinahe unendliche Menge an austauschbaren Produkten miteinander konkurriert? Versuchen Sie doch mal den Marktschreiern in den fünfstöckigen mobile phone shops auf der Nanjing Road zu entkommen und die richtige Wahl aus über 500 verschiedenen Modellen zu treffen!
Firmen, die heute erfolgreich in diesem Wettbewerb bestehen wollen, müssen sich auf ein neues Paradigma verpflichten: Die Relevanz ihrer Produkte im täglichen Leben ihrer Kunden zu erhöhen. Wo Jeans früher noch optimalen Sitz haben mußten, ist heute Anti-Fit (Levi’s) gefragt. Jeans müssen nicht mehr auf den Leib, sondern zum Leben des Kunden passen.
Zur Entwicklung profitabler Wachstumsstrategien ist es nötig, daß Unternehmen den umfangreicheren Kontext verstehen, in dem ihre Kunden routinemäßig Produkte und Services kaufen, und noch viel wichtiger, verwenden. Um das zu erreichen müssen wir uns von einem 40 Jahre alten Paradigma im Marketing verabschieden und den Kunden endlich richtig in den Mittelpunkt stellen.
Das hat auch Auswirkungen auf die Marktforschung. Anstelle der Ermittlung von engen Kaufpräferenzen oder Bedürfnissen, streben relevanzgesteuerte Unternehmen nach einem umfassenden Verständnis von Konsum- und Gebrauchsgewohnheiten. Neuartige Kombinationen ethnographischer Forschungsverfahren halten dort Einzug, Anthropologen verdrängen klassische Marktforscher. Weg von quantitativen Verfahren, die einen Ist-Zustand beschreiben und kaum ihren Weg bis in die Marketingabteilung schaffen. Das Ergebnis: Anstelle von inkrementalen Verbesserungen entwickeln diese Unternehmen Produkte, die sich scheinbar nahtlos in das tägliche Leben des Konsumenten einfügen. Etwa so wie mein Apple mini ipod, der mich überall hin begleitet und sich perfekt mit meiner Arbeitswelt, sprich meinem täglichen Begleiter dem Laptop, verbindet.
Anstelle riesige Summen in traditionelle Marketing-Maßnahmen zu investieren und damit Awareness unter potentiellen Kunden aufzubauen, die sich viel zu selten in Erträge übersetzt, erzeugen „kontextgetriebene“ Unternehmen greifbaren Nutzen für ihre Kunden. Weg vom klassischen Unique Selling Proposition oder USP, hin zum Unique Talking Proposition womit sich Kunden konkret beschäftigen koennen. Weg vom unendlichen Gerede über Supply Chain Management und hin zur Auseinandersetzung mit Demand Chain Management. Kontextgetriebene Unternehmen weiten bestehende Kundenbeziehungen und Relevanz der Marke in völlig neue Lebensbereiche aus. Die Liste der Unternehmen, die mit dem Ansatz der Kontextrelevanz bereits profitables Wachstum erzielt haben ist noch nicht lang, aber dafür eindrucksvoll. Home Depot, Starbucks, Haagen Daz im B2C-Bereich; Thomson, General Electric und Schlumberger im B2B-Bereich. Viele andere arbeiten daran.
In einer Zeit von unendlichen Konsummöglichkeiten, dem unbegrenzten Einsatz von Marketinginstrumenten und zunehmend austauschbaren Produkten garantieren weder Produktverbesserungen noch kontinuierliche Kostensenkungen Wettbewerbs- oder Kundenvorteile. Nur durch echte Relevanz im Kontext des täglichen Lebens des Konsumenten können Unternehmen Werte schaffen und dementsprechend profitable Wachstumschancen. Aber Vorsicht: Das neue Paradigma stellt kein einfaches und schnelles Instrument für kurzfristigen Erfolg dar, sondern ist ein herausfordernder strategischer Ansatz für langfristigen Erfolg.
Über den Autor: Erich Joachimsthaler, Ph.D., ist Gründer und CEO der strategischen Unternehmensberatung Vivaldi Partners (New York / London / München / Amsterdam).