Der russische Angriffskrieg in der Ukraine, Produktionsbedingungen in der Textilindustrie Südostasiens oder die Rodung des Regenwalds in Brasilien sind nur drei von unzähligen Situationen, die nicht nur Einfluss auf Entscheidungen von Konsument*innen haben. Sie veranlassen Unternehmen und Marken auch dazu, öffentlich Position zu beziehen, sich zu erklären oder sogar Konsequenzen zu ziehen. Das ist kein neuer Trend, gewinnt aber immer mehr an Dynamik und entfaltet immer mehr Wirkung. Ein entscheidender Treiber sind dabei Social-Media-Plattformen wie Twitter, Instagram und Facebook, die jedes globale Thema auf unserem Smartphone-Bildschirm präsentieren.
Während Marken immer politischer werden, wird Politik immer markenförmiger. Heute gehen Politiker*innen nicht nur Statements vom Markenkern ihrer Partei leicht über die Lippen. Sie sprechen auch von der Wichtigkeit, in den sozialen Medien als Marke zu funktionieren. Wirtschaftsminister Robert Habeck belegt eindrucksvoll, wie der eigene Regierungsstil, das Reden über das eigene Tun, die Inszenierung der eigenen Rolle zur Marke wird. Markenbildung im Streamingmodus.
Digitalisierung befördert Annäherung
Durch die Digitalisierung und „Social Media first“ vermischen sich Markenwelt und Politik immer mehr, inklusive gegenseitiger Einflussnahme, mal explizit, mal absichtslos. Daher ist es eine Binsenweisheit, dass sich Markenkommunikation und Political Campaigning konzeptionell und strukturell näher sind, als viele meinen. Sie können einiges voneinander lernen.
Zum ABC des Political Campaignings gehört, dass jede Form der Inszenierung und des Storytellings am Ende eine reale und programmatische Grundlage benötigt. Einfaches Beispiel: Wenn ich im Wahlkampf im Dauerloop von bezahlbaren Mieten spreche und mich auf meinen Social-Media-Kanälen mit Helm auf Baustellen zeige, dann sollte ich im Wahlprogramm das Thema bezahlbares Wohnen nicht nur als Fußnote abgehandelt haben. Und ich sollte mein politisches Handeln künftig danach ausrichten, dass ich nach der Wahl jederzeit mit meinen Versprechen aus dem Wahlkampf konfrontiert und an ihnen gemessen werden kann – bei aller Schnelllebigkeit in Zeiten von Twitter & Co.
Echte Veränderungen anstoßen
Was das mit Unternehmen und Marken zu tun hat? Sehr viel, wie die letzten Monate beweisen können. So war es sehr beeindruckend, wie viele Marken und Unternehmen dieses Jahr im Pride Month der Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transpersonen mitgemacht haben und die Geschichte, die Kulturen und die Relevanz dieser Communitys betonten. Im Pride Month wurden die eigenen Logos nicht nur temporär mit den LGBTQ+-Farben umgestaltet, sondern darauf hingewiesen, wie wichtig Diversity für das eigene Unternehmen sei. Stellen wir uns für einen Augenblick vor, all diese Unternehmen und Marken müssten – wie im Wahlkampf-Beispiel – ihre Statements nun ins Verhältnis mit ihrer sonstigen unternehmerischen Realität setzen. Wie steht es beispielsweise um die tatsächliche Gleichberechtigung im Job?
Jüngst haben Ralph Zimmerer, Clara Schmidt-von Groeling und Albert Keher das Buch „Generation Rainbow“ herausgegeben, um jungen Talenten Mut zu machen, „selbst und out ihren Weg zu gehen“. Aus dem Buch wird dieser Tage eine Initiative, der sich Agenturen und Unternehmen anschließen und die der GWA aktiv unterstützt. Dabei geht es nicht nur darum, Normalität im Plural sichtbar zu machen, sondern Veränderungen anzustoßen. Denn Regenbogenflaggen schwenken und Logos bunt einfärben reicht nicht mehr aus, wie die Mitinitiatorin Schmidt-von Groeling zurecht betont. Wer von Diversity redet, kommt nicht umhin, interne Strukturen und Unternehmenskultur zu verändern.
Diversity nicht nur eine Haltungsfrage
Womit wir wieder bei der Politik wären. Diversity hat immer unterschiedliche Ebenen: soziale, ökonomische und rechtliche. Daher kann Diversity nicht nur eine Haltungsfrage sein. Hier geht es um die Umsetzung von Interessen. Deswegen sind Veränderungen in dieser Hinsicht komplex, langwierig und umkämpft – und sie wirken sich nicht nur auf die Marke und öffentliche Wahrnehmung aus, sondern verändern auch alltägliche Situationen und Dynamiken.
Wenn eine Partei in ihren Spitzengremien mehr People of Colour oder Menschen mit Einwanderungsgeschichte haben möchte, muss das politisch diskutiert, erstritten und durchgesetzt werden. In Folge dieses demokratischen Aushandlungsprozesses werden dann andere Parteimitglieder, die ebenfalls für diese Gremien qualifiziert sind, im Zweifel hintenanstehen müssen. Auch wenn die Prozesse und Dynamiken in Unternehmen und Agenturen andere sind, würde es am Ende auch hier heißen, dass ehemals Privilegierte anderen den Vortritt lassen müssen. Schon wieder eine Gemeinsamkeit.