Bernhard Schindlholzer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Wirtschaftsinformatik der Universität St. Gallen.
Herr Schindlholzer, was machen Unternehmen heute bei der Serviceentwicklung falsch?
BERNHARD SCHINDLHOLZER: Generell besteht das größte Problem darin, dass Unternehmen nicht genau wissen, wie man Dienstleistungen entwickelt. Bei Produkten ist das relativ einfach. Jeder hat ein Mobiltelefon und kann sich vorstellen, was man tun muss, um so ein Gerät zu entwickeln. Bei Dienstleistungen ist das schwieriger. Und die Frage ist: Welche Methoden gibt es dafür? Denn obwohl in diesem Bereich schon seit einigen Jahrzehten sehr viel Forschung betrieben wird, ist es erst in den letzten Jahren mehr oder weniger gelungen, diese Methoden auch in die Praxis zu übertragen. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass das der Mitarbeiter in einem Großkonzern oder auch ein Mittelständler weiß, welche Methoden ihm zur Verfügung stehen und wie er diese am besten anwenden kann.
<p<Unter dem Schlagwort "Servicedesign" hat sich in den letzten Jahren – seit 2005 oder 2006 – sehr viel getan. Service Blueprints beispielsweise sind eine gute Möglichkeit, um das abstrakte Artefakt eines Services greifbar zu machen. Und durch Customer Journeys lassen sich die Interaktionen des Kunden gut visualisieren. Auch das Prototyping von Services ist eine praktikable Methode. Das alles ist zwar nicht Rocket Science, ist aber trotzdem noch nicht sehr verbreitet. Das größte Problem besteht meines Erachtens im fehlenden Wissen um die Methoden: Wie genau funktioniert Service Prototyping? Wie macht man Rollenspiele? Und fehlt dieses Wissen, driftet man dorthin ab, wo man sich auskennt. Das ist die Technologie. Zu oft wird vergessen, dass beim Service der Kunde und die Interaktion vom Kunden mit dem Unternehmen im Mittelpunkt steht. Die Technologie sollte eigentlich nur ein Mediator sein. Ich glaube, die Kenntnis der Methoden, um eben genau diese Interaktionen zu gestalten, die fehlt in vielen Unternehmen.
Das ist also Ihre zentrale These: Die Methoden, die zur Gestaltung der Interaktion herangezogen werden können, sind weitestgehend unbekannt.
SCHINDLHOLZER: Genau. Unternehmen stellen sich die Frage: Wie können wir neue Services gestalten? Das lässt sich noch relativ einfach beantworten, wenn man ein neues Verkaufsgebäude errichtet, beispielsweise ein Autohaus, und dort neue Servicekomponenten, wie ein Café oder eine Kinderspielecke testen möchte. Wie aber gestaltet man einen Prototypen für ein neues Anliegen- und Beschwerdemanagement? Da komme ich nur weiter, wenn ich Blueprints erstelle, wenn ich Rollenspiele mache, wenn ich verschiedene Szenarien wirklich erlebbar mache und auch durchspiele, was passiert, wenn jemand eine Beschwerde hat. Diese Methoden sind einfach noch nicht verbreitet und auch nicht akzeptiert. Und sich darauf einzulassen, ist der entscheidende Punkt.
Können Sie uns einmal kurz das Konzept vom Customer Experience Management erläutern?
SCHINDLHOLZER: Customer Experience Management beschäftigt sich mit der bewussten Gestaltung der Kontaktpunkte, die ein Kunde mit einem Unternehmen, dessen Produkten oder Dienstleistungen hat. Es gibt da eine Dreiteilung. Erstens: Welches Produkt oder welches Kernangebot bietet das Unternehmen? Das kann ein Fahrzeug, aber auch eine Versicherungspolice oder ein Bankkonto sein. Dann gibt es die Servicekomponente – den traditionellen Customer Service: Wie wird mir dieses Produkt über den Kundenlebenszyklus angeboten – von der Initialphase, den ersten Gesprächen mit dem Berater, hin zum kontinuierlichen Update über neue Zusatzangebote, bis zur Einladung, die neue Version des Produktes zu kaufen.
Die dritte Komponente ist die Brand Experience: Wie wird das Produkt oder die Dienstleistung an den Kunden kommuniziert. Dabei ist auch wichtig: Was wird kommuniziert. Audi beispielsweise will die Premiummarke Nummer 1 werden. Zwar geht es in erster Linie um die Fahrzeuge und den Service, aber entscheidend ist das Fahrerimage. Wenn man erreicht, dass der Audifahrer jung, dynamisch und erfolgreich ist, ist automatisch auch das Fahrzeug jung, dynamisch und erfolgreich. Mit Werbung, Public Relations und Branding lassen sich ganz bestimmte Erwartungen wecken und entsprechende Positionierungen von Produkten und Dienstleistungen erreichen.
Da ist Audi in den letzten 20 Jahren doch ein gutes Stück vorangekommen.
SCHINDLHOLZER: Genau. Die selbe Frage stellt man sich aber auch bei Opel. Warum kaufe ich mir einen Opel? Aus meiner Sicht, bietet Opel Fahrzeuge, bei denen das Fahrerimage nicht ganz klar ist. Ist es der biedere Familienvater oder ist er jung, dynamisch und erfolgreich? Das ist einfach nicht klar. Das Fahrzeug alleine als Produkt spricht zwar auch, aber eben nicht genug. Ein wunderschönes Beispiel dafür ist auch das Blackberry mit zwei völlig verschiedenen Brand Experiences in Europa und den USA. Während es in Europa immer noch als Businesshandy positioniert ist, gilt es in den USA als Lifestyle-Handy, das Hollywood-Celebrities mit sich herumtragen.
Woran liegt es denn, dass die Customer Experience zum Teil nicht damit übereinstimmt, wie die Unternehmen ihr Produkt, ihre Dienstleistung oder ihre Marke wahrnehmen?
SCHINDLHOLZER: Zum einen hat man es dabei mit Selbstüberschätzung zu tun. Und es ist einfach gemütlicher zu sagen, man ist gut. Bei DAX-30-Unternehmen geht es ja auch nicht darum, die Welt zu verändern und dem Unternehmen zu massiven Wachstum zu verhelfen, sondern den Status Quo möglichst zu erhalten. Ein entscheidender Punkt ist aber auch, dass man sich nicht wirklich in die Rolle des Kunden begibt und nicht selbst erlebt, was der Kunde erlebt. Wie oft passiert es denn, dass man sich als Mitarbeiter oder auch als CEO oder Bereichsleiter eines Unternehmens anonym in die Rolle des Kunden versetzt und wirklich erlebt, was er macht.
Auf meinem Blog habe ich vor zwei, drei Wochen einen Artikel zu General Motors geschrieben. Dort wurden dem Top-Management immer nur die besten Fahrzeuge auf einer Teststrecke präsentiert. Das Top-Management sah also immer die besten Produkte und hat nicht verstanden, warum die Fahrzeuge sich nicht verkaufen ließen. Das geschieht in vielen Unternehmen. Im Top-Management lässt man sich von den Mitarbeitern etwas präsentieren und ist nicht selbst bereit, in die Filialen zu gehen oder einmal in der Warteschleife der eigenen Hotline zu verweilen.
Mittlerweile gibt es doch Ansätze, die vorsehen, dass Topmanager ein paar Tage im Jahr im Callcenter oder in der Filiale mitarbeiten.
SCHINDLHOLZER: Ganz genau. Und das ist der entscheidende Schritt. Denn, wenn ich etwas selbst erlebt habe, bin ich überzeugt. Wenn man versucht, jemand anderen von etwas zu überzeugen, ist das viel schwieriger und aufwendiger. Natürlich ist es nicht ausreichend, nur auf sich selbst zu achten und seine eigenen Erfahrungen zu reflektieren, sondern man muss sich auch damit beschäftigen, welche Erfahrungen machen beispielsweise ältere Leute oder eben andere Kundensegmente.
Ist es so, dass den Unternehmen hierfür einfach zu wenig Informationen bereitstehen?
SCHINDLHOLZER: Ich glaube eher, die falschen Informationen. Es werden ja Unmengen an Daten über den Kunden und sein Verhalten erhoben. Doch niemand beobachtet, was wirklich in einer Filiale passiert und wie sich die Kunden dort verhalten. Es kann sehr aufschlussreich sein, vor Ort mit den Kunden zu sprechen und zu fragen, warum sie bestimmte Dinge tun oder nicht tun. Viele Dinge kann man aber nicht einfach abfragen. Die Kunden sind sich oft gar nicht bewusst darüber, warum sie bestimmte Dinge tun oder nicht tun. Ein Beispiel: In Berlin gibt es in einem Park Sitzgelegenheiten, bei denen einzelne Sitze auf Betonsockel montiert sind. Die Besucher des Parks haben sich nicht auf diese Sitze gesetzt, sondern auf die Betonsockel.
Und unser Design-Team hat die Besucher befragt: „Warum sitzen Sie denn nicht auf den Sitzen, sondern auf dem Betonsockel?“ Die Antwort war: „Die Sitze sind beschmiert und haben Aufkleber drauf, da setze ich mich lieber auf den Betonsockel. Der ist sauberer.“ Ist der Sockel tatsächlich sauberer? Das wage ich zu bezweifeln. Und viele Antworten lauteten: „Das weiß ich gar nicht. Es war mir gar nicht bewusst, dass ich mich auf den Sockel und nicht auf den Sitz gesetzt habe.“ Durch Befragung allein, kommt man also nicht weiter, denn mit den traditionellen Methoden können bestimmte Einsichten nicht generiert werden. Mit qualitativen, ethnographischen Methoden aber können neue Einsichten generiert und ein neues Verständnis für den Kunden geschaffen werden.
Sie haben ja schon einige geeignete Verfahren und Methoden angesprochen. Können Sie uns aktuelle Beispiele aus der Praxis zu Verfahren und Vorgehensweisen nennen?
SCHINDLHOLZER: Ich denke, Ethnographie ist ein ganz heißes und spannendes Thema. Man muss allerdings sagen, dass die Ethnographie derzeit in erster Linie von Multinationals verwendet wird, weniger von deutschen Unternehmen. Das liegt vor allem daran, dass bei Multinationals die Lücke zwischen dem Designer, der z.B. bei Nokia in Finnland sitzt und dem Kunden, der irgendwo anders in der Welt das Mobiltelefon verwendet, sehr groß ist – anders als bei einem Mitarbeiter eines deutschen Mobilfunkunternehmens, der ein Produkt für den deutschen Markt und für den deutschen Kunden entwickelt.
Doch auch da lässt sich mit ethnographischen Methoden recht viel machen. Wie schon erwähnt, ist das Prototyping ein sehr wichtiges Verfahren. Es gilt, Umgebungen zu schaffen, in denen sich experimentieren lässt. Die Deutsche Bank beispielsweise hat in Berlin ihre Filiale Q110 – die Deutsche Bank der Zukunft. McDonald’s hat ein Testcenter in München und Metro unterhält ein Retail Center of the Future. Das alles sind Umgebungen, in denen experimentiert und neue Ideen und verbesserte Services getestet werden können.
Den Unternehmen nach zu urteilen, die Sie eben genannt haben, hört es sich aber fast so an, als wäre das Verfahren nur etwas für die großen Unternehmen, weil es auch sehr teuer ist?
SCHINDLHOLZER: Damit sind wir schon bei dem Punkt: Wo geht die Reise hin. Denn aus meiner Sicht ist der nächste entscheidende Schritt, diese Verfahren dem mittelständischen Bereich zugänglich zu machen. Mein Ansatz ist dabei nicht das dem Web2.0-Hype entsprungene crowd sourcing – man lässt die Kunden neue Ideen generieren und testet Konzepte an ihnen ab. Jedes Unternehmen kennt sicher fünf bis zehn Kunden, die nützlichen Input liefern, die immer wieder mit neuen Ideen aufschlagen, die besonders kritisch und besonders skeptisch sind, die aber trotzdem in einen Dialog mit dem Unternehmen treten.
Diese Kunden gilt es zu identifizieren und einzubinden, um neue Ideen und Vorschläge für neue Produkte und Dienstleistungen zu erhalten und gemeinsam mit dem Kunden Prototypen zu entwickeln. Das ist der Ansatz, den wir aktuell bei einem Automobilhersteller in Südafrika anwenden. Wir setzen uns mit Kunden, die sich beschwert haben und nach der Beschwerde mit der Wiedergutmachung unzufrieden waren, an den Tisch und entwickeln einen neuen Serviceprozess für das Beschwerdemanagement.
So etwas kann man ohne großen Aufwand auch im kleinen Rahmen tun. Wie gesagt, fünf bis zehn Kunden sind ausreichend: Ideen einsammeln, mit dem Kunden gestalten und Umgebungen schaffen, in denen sich die neuen Ideen mit und an diesen Kunden testen lassen – und das in kleinem Rahmen und nicht in einer großen Testfiliale, die an einer der teuersten Einkaufsmeilen in Berlin steht, da geht die Reise hin.
Spricht man über die aktuellen Forschungsthemen an ihrem Instiut, hört man immer wieder von der „Design Thinking Methode“. Was hat es damit auf sich?
SCHINDLHOLZER: Die Design Thinking Methodologie wurde an der Universität Stanford entwickelt. Design Thinking beschreibt prinzipiell den Ansatz, wie Designer an eine Problemlösung herantreten. Und dieser Problemlösungsansatz unterscheidet sich von der typischen betriebswirtschaftlichen Herangehensweise. Betriebswirte sind sehr stark Alternativen selektierend tätig und versuchen von fünf Varianten auf eine zu reduzieren. Bei einem Design-Ansatz versucht man auf Basis von drei Optionen noch fünf weitere mögliche Optionen zu generieren und dann im nächsten Schritt, Alternativen zu selektieren.
Wir übertragen jetzt gemeinsam mit der Uni Stanford und Professor Larry Leifer – dessen erster Doktorand die Design Consultancy Ideo gegründet hat – diese Methode aus dem Maschinenbau in die Betriebswirtschaft und dabei vor allem in die Bereiche Prozessgestaltung und Dienstleistungsentwicklung. Und wir versuchen, diese iterative Arbeitsweise, die über mehrere Prototypen läuft, anzuwenden, um neue Dienstleistungen und neue Prozesse zu gestalten. Das machen wir einerseits in der Ausbildung von Studenten, weil wir glauben, dass wir hier Potential haben, um Studenten einer betriebswirtschaftlichen Universität ein neues Methodenset mitzugeben.
Und andererseits auch in der angewandten Forschung mit Unternehmen, um diese Methode in Unternehmen zu verankern. Denn Design Thinking bietet einen pragmatischen hands-on-Ansatz, um Innovation zu realisieren und nicht immer nur Innovation zu managen. Denn das ist auch eine meiner Beobachtungen: Innovationsmanagement mit Innovationsgremien, Ausschüssen und Innovationsmanagern gibt es seit Jahren. Aber wirklich einmal konkret etwas umsetzen, die Ärmel hochzukrempeln und zu sagen: Let‘s do it! Das findet man in DAX-30-Konzernen sehr selten.
Mittlerweile hat man den Eindruck, dass diese Macht des Designs ziemlich populär geworden ist. Und Ideo beispielsweise ist ja jetzt auch in Deutschland sehr aktiv.
SCHINDLHOLZER: Ja, genau. Ideo ist ziemlich aktiv im Moment. Im Juli habe ich Tim Brown, den CEO, in San Francisco getroffen und er berichtete von einigen Schwierigkeiten, da in Deutschland niemand dieses Thema kennt. Jetzt ist Ideo dabei das Thema hier zu positionieren.
Ich bin überzeugt, es ist etwas dran an diesem Ansatz. In San Francisco, im Silicon Valley kennt jeder die Firma Ideo, jeder kennt diesen Design-Ansatz und die Produkte, die dort gemacht wurden. In Europa, im deutschsprachigen Raum ist das nicht so. Da kennt sie niemand. Und hier herrscht auch eine andere Kultur.
Wenn man sich anschaut, was im Silicon Valley in den letzten 40 Jahren entstanden ist, dann sind das wahrscheinlich die Hälfte aller Produkte, die auf Ihrem Schreibtisch herumstehen – von Laptops angefangen, vielleicht ein Googlephone, Apple-Produkte und vieles mehr. Diese Arbeitsweise zu übertragen und in europäische Unternehmen zu bringen, ist ein großer Schritt. Natürlich wird der typische Manager eines Unternehmens jetzt nicht zum Designer werden. Aber ich glaube, das ist auch nicht der entscheidende Punkt, sondern einfach zu verstehen, es gibt eine andere Arbeitsweise und zu wissen, wie man diese Arbeitsweise einsetzen kann.
Wo sehen Sie denn den Nachschulungsbedarf bei den aktuellen Akteuren?
SCHINDLHOLZER: Sehr verbreitet ist ja die Meinung, dass Mitarbeiter nicht innovativ und kreativ genug sind. Unsere Erfahrung aus unseren Workshops aber ist: Wenn man Mitarbeitern den Freiraum gibt, ihre Ideen auszuleben, ihre Ideen offen anzusprechen, ohne Befürchtungen haben zu müssen, dass jemand diese Ideen schlechtredet oder abschmettert, dann kann man das Potential seiner Mitarbeiter auch realisieren. Das entscheidende ist: Als Vorgesetzter muss man das zulassen. Man muss zulassen, dass man Kontrolle abgibt, dass man Mitarbeitern Freiräume schafft und dass man sie auch mal scheitern lässt. Nach meinen Beobachtungen in den Workshops der letzten 12 Monate ist das der entscheidende Punkt: Zulassen! Und das steht natürlich diametral entgegen der DAX-30-Kultur.
Das heißt, dass zunächst einmal ein kultureller Wandel einsetzen müsste?
SCHINDLHOLZER: Ja. „Kultureller Wandel“ ist aber auch so ein großes Wort. Ich kann ein Unternehmen vielleicht über Jahre und Jahrzehnte hinweg kulturell wandeln. Ich kann aber versuchen, eine Umgebung zu schaffen, die Freiräume bietet – für ein Team, das sich ausleben kann, das scheitern darf und das losgelöst ist vom typischen Hierarchiedenken.
Herr Schindlholzer, herzlichen Dank für das Gespräch. Das Interview führte Bernhard Steimel.