Nicht mehr. Heimat begegnet uns allerorten. Die Zeitschrift „Landlust“ mischt den Blätterwald auf. Kluftinger ist überall. Regionalkrimis überschwemmen TV- und Buchmarkt, regionale Lebensmittel die Regale der Supermärkte und auch in Kleidung oder Einrichtung. Auch, weil sich das Verständnis des Begriffs zum Glück entkrampft und weiterentwickelt hat. Heimat ist zum natürlichen Gegenpol zur Globalisierung geworden. Vor ein paar Jahren war es noch ein Trend – eine neuaufkommende Strömung. Heute ist Heimat im Mainstream angekommen, es ist zu einem Sehnsuchtsfeld der Massen geworden. Und wo Sehnsuchtsfelder sind, sind Marken nicht weit.
Landliebe, Hohes C, Tannenzäpfle, Glashütte. Viele Marken, insbesondere im Lebensmittelbereich, haben Heimat mittlerweile zu einem Schlüsselbestandteil ihrer Positionierung gemacht. Und immer mehr Marken versuchen, auf diesem Feld mitzuspielen. Wer jetzt noch auf den Zug aufspringt, stellt allerdings fest, dass das Gedränge um die besten Plätze groß ist. Es ist nicht leicht, Heimat noch spezifisch zu inszenieren und sich abzusetzen.
Und doch ist es möglich: Natürlich haben wir bestimmte Bilder im Kopf, wenn wir heute an Heimat in Verbindung mit Marken denken. Möglicherweise kommen Ihnen gerade Assoziationen rund um etwas Ländliches, Traditionelles, Liebliches, oder an Apfelbäume und eine Scheune aus Holz in den Sinn. Ein solches Verständnis ist durchaus weit verbreitet, wenn auch das lieblich, idyllisch Verklärte eher dem Authentischen und bewusst Unperfektem weicht.
Wir sprechen dabei von „Codes“. Begriffe sind vielschichtig und werden unterschiedlich interpretiert. Zu jeder Zeit gibt es vorherrschende Interpretationen, die dem gesellschaftlichen Verständnis entsprechen. Eine durchaus gängige Interpretation von Heimat ist ein Code, den wir „Malerische Lieblichkeit“ nennen. Er geht einher mit typischen Bildwelten, einer charakteristischen Sprache, passenden Farben sowie Materialien und lässt sich in dieser Form auch im Alltagsleben finden, zum Beispiel in den Kinderbüchern von Janosch oder der Ästhetik der Anthroposophie.
Nun, das ist eine Interpretation. Wenn wir Begriffe wie „Heimat“ untersuchen – wir tun dies mit einer Technik namens Semiotik, der Lehre der Zeichen – dann finden wir in der Regel zehn bis fünfzehn unterschiedliche Interpretationen oder Codes. Diese sind aber nicht statisch, sondern verändern sich im Lauf der Zeit. Auch das Heimatverständnis ist nicht stehengeblieben. Denken Sie an die Heimatfilme aus den 50er-Jahren. Die damalige Heile-Welt-Romantik ist einer Sehnsucht nach Echtheit gewichen.
Wer als „Heimatmarke“ morgen erfolgreich sein will, sollte nicht auf die gängigen Interpretationen setzen, sondern heute nach dem Heimatverständnis der Zukunft suchen. Diese lassen sich durchaus finden, im Kleinen. Später ein paar Beispiele hierzu.
Aber was ist „Heimat“ eigentlich? Wie der Berliner Anglistik-Professor Hans-Dieter Gelfert in seinem exzellenten Buch „Was ist Deutsch? – Wie die Deutschen wurden, was sie sind“ ausführt, ist es tatsächlich etwas sehr Deutsches. Wir haben historisch ein emotionaleres, tieferes Heimatverständnis als viele andere Kulturen, beispielsweise Briten, Franzosen oder Amerikaner. Dies drückt sich auch darin aus, dass es weder im Englischen noch im Französischen ein echtes Synonym gibt.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Heimat ist nicht gleich Herkunft. Auch Herkunft wird im Markenuniversum immer stärker thematisiert. Es ist eine Antwort auf die zunehmende Sehnsucht nach Substanz statt unverbindlicher Oberflächlichkeit. Und die Assoziation mit kulturellen Eigenheiten der Herkunftsländer (zum Beispiel Ikea: Schwedisch unkompliziert; Freixenet: Spanisch temperamentvoll; Citroen: Französisch kreativ) kann vorhandene Markeneigenschaften durchaus verstärken.
Was Heimat von der Herkunft unterscheidet ist ihre tiefgreifende Emotionalität. Heimat ist „hierzulande“. In erster Linie in der Region, aus der ich selbst komme. In zweiter Linie sind es andere deutsche Regionen. Nicht meine eigene Heimat, aber doch im selben Sprach- und Mentalitätsraum. Zählt auch. Heimat bedient ein gerade bei uns Deutschen tief verwurzeltes Gefühl nach Geborgenheit, Vertrautheit und Zugehörigkeit, wie Gelfert schreibt: „das unbeschädigte Leben“, über individuelle Sentimentalität hinaus eine kollektive Sehnsucht.
Dieses Heimatverständnis entwickelt sich nun weiter und wird durch andere Komponenten bereichert. Da uns anders als beispielsweise den Amerikanern alles Patriotische eher suspekt bis peinlich ist, wir aber spätestens seit der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 dennoch ein stärkeres Recht auf unsere Identität verspüren und uns trauen, dieses auch zu äußern, gehen wir damit anders um.
Hier ein paar Beispiele eher aufstrebender Heimat-Codes: (Selbst-)Ironie und Augenzwinkern (zum Beispiel das bayrische Magazin „Muh“). „Wir stehen zu unseren Heimatgefühlen, nehmen uns aber selbst nicht zu ernst und sind keine Spießer.“ Man traut sich, aber nicht so ganz. Leichtigkeit und etwas Spielerisches, Unverkrampftes (z.B. Reiz-Brillen oder Liebeskind-Taschen & Accessoires). „Heimat: Ja, aber das ist doch ein völlig unschuldiges, beschwingtes Gefühl, nicht Pathostriefendes“. Weniger neu, aber zuletzt verstärkt thematisiert: Substantielle Seriösität (zum Beispiel Bitburger Siegelhopfen, aber auch die deutsche Produktion von Trigema oder Liqui Moly). „Heimat ist nicht nur Gefühlsduselei, Heimat hat Qualität und Substanz“. Und auch das kommt in dezenten Dosen inzwischen daher: Heimatstolz (zum Beispiel die Mountainbike-Marke Rotwild inmitten einer amerikanisch dominierten Kategorie, die Designkompetenz und deutsche Ingenieurskunst verbindet).
Diese Beispiele sind nicht erschöpfend. Sie können auch keine Empfehlung abgeben, welche Marke das Thema Heimat in welche Richtung spielen sollte. Sie sollen aufzeigen, dass eine Positionierung auf „Heimat“ auch ohne abgegriffene Stereotype auskommt, auch wenn uns diese in der nächsten Zeit nicht nur weiter begleiten, sondern auch dominant bleiben werden.
Heimat ist, wie oben erwähnt, ein Sehnsuchtsfeld der Massen von ungebrochener Relevanz. Es wird auch morgen Marken geben, die sich das Thema zu eigen machen und damit erfolgreich sein werden. Vermutlich sogar mehr als heute. Sie werden dies allerdings nicht erreichen, indem sie Ausgetretenes kopieren oder adaptieren, sondern indem sie gesellschaftliche Strömungen frühzeitig aufgreifen und auf markenspezifische und ansprechende Art und Weise umsetzen. Manche werden das aus Intuition tun – die hat man oder hat man nicht. Glück gehört dazu. Wem das zu risikoreich erscheint, dem sei Semiotik ans Herz gelegt. Erfolg muss kein Zufall sein.
Über den Autor: Christoph Prox ist CEO des Markenberatungsunternehmens Icon Added Value.