Von Peter Hanser
Herr Scheier, hat die Neuroforschung das Marketing verändert?
CHRISTIAN SCHEIER: Das Thema hat insgesamt einen viel breiteren Schwung und Beachtung bekommen. Zwar lebt auf der konzeptionellen Ebene Kauf von Produkten Ziele sowohl auf expliziter als auch implizierter Ebene verfolgen. Es geht dabei nicht um diffuse Emotionen, sondern Menschen verfolgen insgesamt Ziele, mit allem was sie tun. Und die Erreichung von Zielen ist belohnend.
Was bedeutet das konkret?
Wenn ein Konsument zum Beispiel Waschpulver kauft, dann hat er ein explizites Ziel wie saubere Wäsche, aber damit zusammenhängend auch implizite Ziele wie Sicherheit oder Anerkennung, die er erreichen möchte. Das Zieldenken erleben wir in Kundenprojekten als sehr hilfreich und es ist auch relativ neu in der Wissenschaft.
Wie wird der Themenkomplex von der Praxis aufgenommen?
Sehr gut und meiner Erfahrung nach ist es auch der bessere Weg, um von tradierten Vorstellungen wie etwa dem Hemisphärenmodell wegzukommen, weil sich explizite und implizite Ziele nicht widersprechen. So kann man Produkt und Marke – oder auch Vertrieb und Marketing – viel besser zusammenbringen und managen.
Wie kann dies erreicht werden?
Die Frage führt zum zweiten Bereich, in dem viel passiert, nämlich den sogenannten Codes. Letztendlich geht es um die Frage, wie die Kunden-Ziele anzusprechen sind. Dies sollte nicht nur geschehen, in dem man diese Ziele anspricht oder zu den Emotionen – meist relativ generische – Bilder auswählt, was im allgemeinen im Marketing gemacht wird, sondern im Idealfall werden Codes für die impliziten Ziele identifziert und ausgelobt . Wir haben einiges darüber gelernt, wie das Gehirn Codes decodiert und verarbeitet. Wir wissen insbesondere, dass es keinen Bildspeicher im Gehirn gibt, und dass, wenn wir etwas sehen, in kürzester Zeit Assoziationen aktiviert werden, die eine Kommunikation wirksam machen oder nicht.
Mit dem Thema Codes hängt viel zusammen: Zum Beispiel das Embodiment, die verkörperte Intelligenz. Das ist neu. Letztendlich geht es um die Erkenntnis, dass, wenn wir etwas sehen, berühren oder anfassen, dies nicht nur eine motorische Handlung ist, sondern wiederum Konzepte im Kopf der Zielgruppen aktiviert. Wenn ein Unternehmen ein Duschgel für Männer konzipiert und der Deckel nur mit einem Feingriff zu öffnen ist, dann funktioniert das Produkt nicht. Da muss ein männlicher Kraftgriff ran.
Damit zusammenhängend ist der Trend, nicht mehr nur Hightech, sondern auch Hightouch in den Focus zu rücken. Wir wissen, dass die Vernetzung über die Sinne insgesamt, aber insbesondere über das Berühren, eine herausragende Rolle spielt. Ich glaube, dass dieses Thema für Finanz- und Servicedienstleistungen ein hochinteressantes Gebiet darstellt, das sich aus dem Neuromarketingbereich heraus in die Praxis hinüberbewegt. Dabei geht es um die Umsetzung der ganzen Erkenntnisse, wie ein Versprechen anfassbar gemacht werden kann, so dass es der Autopilot im Kopf intuitiv decodiert und wir nicht nur über verbale Botschaften, gerade bei abstrakten Produkten oder Dienstleistungen, kommunizieren.
Wie kann ein Unternehmen beispielsweise Offenheit anfassbar machen?
Wenn es den Anspruch hat, ein offenes Unternehmen zu sein, dann kann es dies beispielsweise über verschiedene Falttechniken eines Flyer transportieren. Ein Stück Offenheit wird über die Handlung aktiviert, statt es nur irgendwo hinzuschreiben.
Dieser ganze Bereich ist neu, , bei dem es darum geht eine Dienstleistung über die Codes und die Ziele, die wir ausloben wollen, haptisch zu verankern, also sprichwörtlich be-greifbar zu machen. Das ist die neue Konkretheit.
Und welches ist der dritte neue Forschungsbereich?
Das ist das Thema interaktive Medien. Nir Eyal entwickelt in seinem Buch „Hooked – Wie Sie Produkte erschaffen, die süchtig machen“ ein neues Framework. Er stellt die Frage, wie es dazu kommt, dass Menschen auf Touchscreens abfahren, auf verschiedene Dienste wie Instagram, Facebook usw. und führt die Forschungen zusammen. Eyal entwickelt ein praktisches Modell, wie man diese Erkenntnisse im Marketing nutzen kann.
Wir wissen, dass das Gehirn nichts mehr belohnt als Dinge, die nicht immer unbedingt vorhersagbar belohnen. Dies könnte beispielsweise eine neue spannende Twitternachricht sein. Ihre Unvorhersagbarkeit macht sie so spannend – man möchte erfahren, ob etwas Spannendes dabei ist – und schaut deshalb immer wieder nach. So bilden sich Gewohnheiten heraus, man ist „hooked“.
Wir können jetzt genauer messen. Wir wissen was passiert, aber wissen wir auch, warum es passiert oder laboriert man nur an den Symptomen herum?
Mit dem Warum sind wir aus meiner Sicht sehr weit gekommen. Es gibt ganz viel Konsens beispielsweise darüber, dass die Kaufentscheidung ein Wechselspiel zwischen zwei Prozessen ist: Das eine ist die Belohnungserwartung, denn wenn ich eine Marke oder ein Produkt sehe, das ich haben möchte, wird das Belohnungssystem aktiv. Wenn ich dann den Preis sehe, wird das Schmerzareal aktiv. Ist die Belohnungserwartung höher als die Schmerzerwartung, wird gekauft. Das Warum einer Kaufentscheidung wird damit ein wesentliches Stück klarer. In diesem Bereich sind wir schon weit über die reine Beschreibung hinaus, weil es neue Tools gibt, die uns ermöglichen, nicht nur festzustellen, dass bestimmte Strukturen aktiviert werden, sondern auch die Verbindungen der Strukturen offenlegen. Das ist ein Quantensprung, weil das Kausalitäten aufzeigt.
Die neurowissenschaftliche Forschung erfolgt im Labor. Die Gehirnvorgänge werden damit aus dem natürlichen Kontext herausgerissen. Wie beeinflusst das die Ergebnisse?
Bei Grundlagenforschung geht es immer darum, die Grundlagen herauszuarbeiten, grundlegende Zusammenhänge wie Belohnung versus Schmerz usw. Dann stellt sich die Frage zurecht, ist das völlig kontextunabhängig, sind die Ergebnisse aus dem Scanner transferierbar? Das nennt man ökologische Validität. Wissenschaft muss Komplexität reduzieren, denn sonst würden wir nie auf einen Punkt kommen. Es ist nachher der Psychologe, der sich darum kümmert, das Ganze anzureichern über praxisnähere Themen, insbesondere der Bezug zum (Kauf-)Verhalten in einem konkret Kontext. Mittlerweile haben wir die Möglichkeit, Gehirnströme mobil zu erfassen und alle möglichen neuronalen Prozesse aufzuzeichnen, etwa beim Online Shoppen, im Supermarkt oder beim Besuch einer Filiale.
Sind die Anwender zielsicherer in der Erreichung ihrer Ziele? Ist Marketing mit diesen Erkenntnissen effektiver und effizienter?
Definitiv beides. Der Grund ist relativ einfach. Das Neuromarketing bietet in erster Linie eine belastbare, und bei richtiger Aufbereitung eine einfache Plattform, mit der im Unternehmen eine kohärente und stringente gemeinsame Sprache zur Verfügung steht. Oft hat jede Abteilung oder haben viele Dienstleister ganz eigene Ideen im Kopf wie Werbung funktioniert. Daran kranken viele Markenführungs- und Kommunikationsprozesse. Wenn man eine gemeinsame, wissenschaftlich hergeleitete Plattform hat, dann besteht einer der Hauptmehrwerte darin, dass man dieselbe Sprache verwendet, z.B. von Kunden-Zielen statt von Emotionen spricht, oder dass man Kommunikation nicht mehr nach dem subjektiven Gefallen bewertet sondern danach, ob bestimmte Codes relevante Kunden-Ziele addressieren. Wenn man eine gemeinsame Sprache hat, ist das schon die halbe Miete. Das ist effektiver, weil es zu viel weniger Meetings führt, viel besseren Briefings und man viel schneller auf den Punkt kommt. Gefallen ist kein Kauftreiber. Werbung muss nicht gemocht werden, um zu wirken. Wenn ich das weiß und auseinanderhalten kann, sowie auf die impliziten Daten schaue, kann dies das ganze Marketing, die Kommunikationsprozesse und die Produktentwicklung bis hin zur Zusammenarbeit mit den Agenturen effizienter machen.
Ist der Konsument mit diesen Erkenntnissen steuerbarer geworden?
Das erste, wenn ich an das Belohnungsziel denke, ist die Aussage, dass es vielmehr um Pull als um Push geht. Das Gehirn macht auf, wenn es eine Belohnung erwartet, sonst macht es zu. : Wir rennen nicht den Kunden nach, sondern die Kunden kommen zu uns. Dafür muss man ganz gut verstehen, was die Kunden unter der Oberfläche des Bewusstseins wollen. Aber gegen den Willen der Kunden geht es nicht.
In welchen Bereichen sehen Sie noch Forschungsbedarf?
Sehr viel können wir sicherlich noch lernen in der Rückkoppelung von Kultur auf den Menschen auf seine sozialen und kulturellen Kontexte. Auch Veränderungen innerhalb von Kulturen haben wir noch nicht richtig verstanden. In der Neurowissenschaft sind wir heute in der Lage, mehrere Gehirne gleichzeitig zu messen, wenn sie interagieren. So können Gruppenprozesse und Verhandlungen im Gehirnscanner nachvollzogen werden. Aber da sind wir noch ganz am Anfang. Aber ich glaube, dass in diesem Bereich noch viele Erkenntnisse für das Marketing schlummern.
Dr. Christian Scheier verbindet als Neuropsychologe Forschungs- und Praxiskompetenz in der Marketingberatung. Nach einer wissenschaftlichen Karriere am renommierten California Institute of Technology, und dem erfolgreichen Aufbau einer Agentur für Marketingforschung, gründete er zusammen mit Dirk Held die decode Marketingberatung GmbH.