Wie die deutsche Gesellschaft auf die Welt blickt

Wie tiefgehend ist das gesellschaftliche Verständnis für die Welt, in der wir leben? Welche Gefühle umtreiben die Menschen rund um den Globus? Ipsos hat zu diesen großen Fragen eine globale Studie durchgeführt. Die Ergebnisse mit Fokus auf die deutsche Gesellschaft.
Gesellschaft
Eine klare Mehrheit der Bundesbürger (61 Prozent) hält die Gesellschaft in Deutschland für zerrüttet. (© Unsplash/Patrick Robert Doyle)

Bröckelnder Zusammenhalt, eine größer werdende Kluft zu elitären Kreisen, geteilte Meinungen über Auswirkungen von Einwanderung: Die (deutsche) Gesellschaft hat eine Reihe herausfordernder Aufgaben zu bewältigen. Und die Lage scheint bei einigen dieser Themen angespannt zu sein, wie die Ergebnisse der aktuellen Umfrage „Broken-System Sentiment in 2021. Populism, Anti-Elitism and Nativism“ des Markt- und Meinungsforschungsunternehmens Ipsos zeigen.

61 Prozent halten deutsche Gesellschaft für zerrüttet

Alarmierend wirkt gleich die erste Kernaussage der Studie: Eine klare Mehrheit der Bundesbürger (61 Prozent) hält die Gesellschaft in Deutschland für zerrüttet. Lediglich 13 Prozent der Befragten widersprechen dieser Aussage.

Als kleines Trostpflaster: Immerhin zeigen sich in Deutschland weitaus weniger populistische, anti-elitäre und anti-migrantische Tendenzen als in den meisten anderen untersuchten Ländern. Global gesehen nimmt in 16 von insgesamt 25 befragten Nationen eine Mehrheit der Menschen eine starke gesellschaftliche Spaltung wahr, besonders häufig jedoch in Südafrika (74 Prozent), Ungarn (72 Prozent) und Brasilien (72 Prozent).

Kluft zwischen Normalbürgern und Elite

Nichtsdestotrotz werden laut Ipsos-Studie anti-elitäre Einstellungen auch hierzulande von einer Mehrheit der Bevölkerung geteilt: Zwei von drei Befragten (66 Prozent) sind beispielsweise der Überzeugung, dass das Wirtschaftssystem in Deutschland zugunsten der Reichen und Mächtigen manipuliert ist. Knapp drei Viertel (73 Prozent) glauben zudem, dass Politiker immer einen Weg finden, um ihre Privilegien zu schützen. Viele Deutsche haben darüber hinaus den Eindruck, dass sich die Elite nicht für hart arbeitende Menschen interessiert (64 Prozent) und dass Experten in diesem Land nicht die Lage von Menschen wie ihnen selbst verstehen (53 Prozent).

Den Ergebnissen nach folgerichtig stimmen knapp zwei Drittel der Befragten (64 Prozent) der Aussage zu, dass die größte Kluft in der deutschen Gesellschaft zwischen normalen Bürgern und der politischen sowie wirtschaftlichen Elite besteht. Entsprechend klein ist der Anteil der Befragten, die sich selbst zur Elite Deutschlands zählen: Lediglich 14 Prozent ordnen sich selbst zumindest bis zu einem gewissen Grad der Elite zu. Jeder zweite Deutsche (49 Prozent) sieht sich „definitiv nicht“ als Teil der Elite.

Mehrheit für Volksabstimmungen, aber gegen starken Anführer

Angesichts dieses ausgeprägten „Anti-Elitarismus“, wie ihn Ipsos nennt, stoßen auch in Deutschland populistische Einstellungen durchaus auf Zuspruch: Sechs von zehn Deutschen (59 Prozent) haben zum Beispiel den Eindruck, dass sich traditionelle Parteien und Politiker nicht um Menschen wie sie kümmern – ein Anstieg um sechs Prozentpunkte seit 2016. Mehr als jeder Zweite (53 Prozent) findet außerdem, dass die wichtigsten politischen Themen direkt vom Volk über Referenden und nicht von den gewählten Vertretern entschieden werden sollten.

Einen „starken Anführer, der das Land von den Reichen und Mächtigen zurückerobert“ (36 Prozent) und „bereit ist, Regeln zu missachten“ (23 Prozent) wünscht sich dagegen nur eine Minderheit. Beunruhigend ist und bleibt die Tatsache, dass in allen anderen befragten Ländern die Sehnsucht nach einer starken Führungsfigur deutlich größer als in Deutschland ist.

Geteilte Meinungen Einwanderung

Das Thema Einwanderung wird in der deutschen Gesellschaft nach wie vor kritisch gesehen. Fast jeder Vierte (22 Prozent) glaubt laut der Ipsos-Studie, „dass Immigranten ,echten Deutschen‘ die Arbeitsplätze wegnehmen“. Rund vier von zehn Bundesbürgern (38 Prozent und -6 seit 2016) vertreten die Ansicht, dass Deutsche in Zeiten von Arbeitsplatzmangel auf dem Arbeitsmarkt bevorzugt behandelt werden sollten.

Im weltweiten Vergleich ist diese abgrenzende Haltung der Deutschen damit allerdings weitaus schwächer ausgeprägt als in den meisten anderen Ländern – im globalen Durchschnitt stimmen dieser Aussage 57 Prozent der Befragten zu.

Was die allgemeinen Auswirkungen von Einwanderung auf die Gesellschaft betrifft, sind die Deutschen geteilter Meinung: 36 Prozent der Befragten denken, dass Deutschland stärker wäre, wenn die Einwanderung komplett gestoppt würde. Etwa ebenso viele (37 Prozent) stimmen dieser Aussage jedoch nicht zu.

Methode

Die Ipsos-Studie „Broken-System Sentiment in 2021. Populism, Anti-Elitism and Nativism“ wurde in 25 Ländern weltweit durchgeführt. Zwischen 26. März und 9. April 2021 wurden 19.017 Interviews mit Erwachsenen im Alter von 18 bis 74 Jahren in Kanada, Malaysia, Südafrika, der Türkei und den USA sowie zwischen 16 und 74 Jahren in allen anderen Ländern durchgeführt. Die Daten wurden gewichtet, um dem Profil der Bevölkerung zu entsprechen.

Zu den untersuchten Ländern gehören Argentinien, Australien, Belgien, Brasilien, Chile, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, Kanada, Kolumbien, Malaysia, Mexiko, Niederlande, Peru, Polen, Russland, Schweden, Spanien, Südafrika, Südkorea, Türkei, Ungarn und die USA.

In 16 der 25 untersuchten Länder ist die Internetdurchdringung ausreichend hoch, um die Stichproben als repräsentativ für die breitere Bevölkerung in den abgedeckten Altersgruppen zu betrachten: Argentinien, Australien, Belgien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, Kanada, Niederlande, Polen, Schweden, Spanien, Südkorea, Ungarn und USA. 

Die neun verbleibenden untersuchten Länder weisen laut Ipsos eine geringere Internetdurchdringung auf. Die Stichprobe dieser Länder repräsentiert eher die wohlhabende und gut vernetzte Bevölkerungsgruppe, die aber eine wichtige gesellschaftliche Rolle hat und die aufstrebende Mittelschicht verkörpert.

(he, Jahrgang 1987) – Waschechter Insulaner, seit 2007 Wahl-Hamburger. Studierte Medien- und Kommunikationswissenschaften und pendelte zehn Jahre als Redakteur zwischen Formel-1-Rennstrecke und Vierschanzentournee. Passion: Sportbusiness. Mit nachhaltiger Leidenschaft rund um die Kreislaufwirtschaft und ohne Scheuklappen: Print, live, digital.