Herr Gruel, wird die Erfahrung der Corona-Pandemie das Mobilitätsverhalten der Menschen in Deutschland nachhaltig verändern?
WOLFGANG GRUEL: Für die Antwort brauche ich eine Glaskugel. Ich habe dazu mehrere Szenarien im Kopf. Da ich Optimist bin, fange ich mit dem positiven an: Was ich hoffe ist, dass wir durch die Corona-Situation merken, dass wir auch mit einer anderen Art, uns fortzubewegen, ein glückliches Leben führen können. Viele Leute sagen, dass sie noch nie so ihre Umgebung erkundet haben – viele Dinge hätten sie ohne Corona nie entdeckt. Andere sagen, dass sie nicht mehr so gehetzt sind, weil sie nicht mehr zu zig Events müssen.
Und dann gibt es noch den Homeoffice-Trend, der auch in Zukunft zu einer Reduktion von Mobilität beitragen kann. Ich würde mir sehr wünschen, dass wir uns besser überlegen: Warum müssen wir wann mobil sein? Was wollen wir damit erreichen? Und was wollen wir als Gesellschaft an Mobilität unterstützen? Beim Rettungswagen dürften wir uns alle einig sein, aber wollen wir Mobilität auch für die unterstützen, die mit ihrem getunten tiefergelegten Sportwagen die Hauptstraße hoch- und runterfahren?
Und das pessimistische Szenario?
Dass wir einen ganz großen Nachholbedarf haben, und viele sich sagen: „Ich war das ganze letzte Jahr nicht weg und jetzt muss ich doch für den Sommer in die Südsee und im Herbst wäre Südafrika ganz gut und im Winter ist es hier so kalt und ich war ja gar nicht weg und deshalb buchen wir Australien.“
Was raten Sie der deutschen Automobilwirtschaft, jetzt zu tun?
Sich stärker auf das Thema Mobilität zu fokussieren, und zwar aus einer nicht nur autogetriebenen Perspektive, sondern von der Frage geleitet, was den Menschen wirklich weiterhilft. Und nicht nur den Kunden, die ein Auto kaufen wollen, sondern Menschen, die in Städten leben. Sie sollten sich als Anbieter von Lösungen präsentieren, für Probleme, die sie im Zweifel selbst mitgeschaffen haben.
Wo werden derzeit wegweisende Mobilitätskonzepte entwickelt?
In Singapur passiert viel, oder in vielen chinesischen Städten, die gerade aus dem Boden gestampft werden. Auch die Vision der autofreien Stadt Neom in Saudi-Arabien ist spannend – dort sollen jedes Viertel und alle Punkte des täglichen Bedarfs innerhalb von 20 Minuten erreichbar sein. Interessant sind auch Städte wie Paris, die das Auto aus der Stadt verbannen und den Champs–Élysées komplett so umbauen, dass er wieder eine echte Bereicherung für die Stadt ist und nicht eine Autostraße, an der sich keiner aufhalten will.
Der Artikel erschien zuerst in der Printausgabe (Januar/Februar) der absatzwirtschaft.