Von Lilian Fiala, Jan Guldner und Sarah Sendner
Um ihre Arbeit zu erledigen, braucht Kerstin Pape keine Regale voller Managementliteratur. Sondern vier Buchstaben. Die Onlinemarketingleiterin des Hamburger Versandhändlers Otto steht stets vor der Herausforderung, ihre Aufgaben zu priorisieren. Und dabei hat sich vor allem eine Methode als wirkungsvoll erwiesen. „Ich neige zunehmend dazu, neue Projekte abzusagen“, sagt Pape, „weil sonst die Zeit fehlt für die wirklich wichtigen Ziele.“
Nicht alle euphorisch vorgetragenen Ideen aus der Chefetage erweisen sich als Geniestreiche. Wenn Pape findet, dass die knappe Zeit ihrer Marketingexperten und Datenanalysten an anderer Stelle besser verwendet ist, lehnt sie Vorgaben von oben auch schon mal ab. Nicht patzig, sondern gut begründet. „Meine Mitarbeiter erwarten von mir als Führungskraft, entschieden Nein zu sagen und ihnen den Rücken freizuhalten“, sagt die 44-Jährige.
Wir tun uns schwer, mit dem „Nein“
Dazu braucht sie ein gutes Gespür: Ist ein Vorschlag relevant oder nicht? Außerdem muss sie noch dazu den Mut haben, ihr Nein klar zu kommunizieren. Denn auch wenn ein Nein nur zwei Buchstaben mehr hat als ein Ja, so geht es einem doch viel schwerer über die Lippen. Zumindest anfangs. „Je öfter man Nein sagt, desto mehr merkt man, dass es nicht wehtut und am Ende auch der Beurteilung nicht schadet“, sagt Pape, im Gegenteil: Mit einem begründeten Nein erarbeite man sich „mehr Respekt, als wenn man alles nur abnickt“.
Nanu. Machen Vorgesetzte nicht ständig klar, dass sie Angestellte bevorzugen, die mehr Aufgaben übernehmen, selbst wenn sie dafür Überstunden machen müssen? Hat nicht derjenige Erfolg, der häufig Ja sagt zu den Herausforderungen, Sonderprojekten und Ideen des Chefs? Nun – es kommt darauf an. Eine Kultur permanenter Zustimmung und ewiger Einwilligung schadet nicht nur den Unternehmen, sondern auch den Angestellten. Tatsächlich steigen sie mit einer durchdachten Absage im Ansehen vieler Vorgesetzter mitunter höher als mit einem unbedarften Ja. Ein qualifiziertes, gut argumentiertes Nein macht nicht nur beim Vorgesetzten Eindruck, sondern schützt vor allem auch den Neinsager selbst: vor chronischer Überlastung.
Das belegt eine Reihe prominenter Querköpfe. Etwa Warren Buffett. Als der legendäre Investor auf den Unterschied zwischen erfolgreichen und wirklich erfolgreichen Menschen angesprochen wurde, sagte er: „Letztere sagen zu fast allem Nein.“ Und auch eine der reichsten Frauen der USA, Medienunternehmerin Oprah Winfrey, ist bekennende Neinsagerin. In einem Podcast der „New York Times“ erklärte sie kürzlich, wie wichtig es ist, anderen Wünsche abzuschlagen. Jeder Mensch habe von Geburt an Angst davor, bei einem Nein auf Ablehnung oder Abneigung zu stoßen: „Das war eine meiner wichtigsten und schwierigsten Lektionen“, sagte Winfrey, „Nein zu sagen und damit leben zu können.“
Auch in deutschen Unternehmen hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass ein gut begründetes Nein wertvoller ist als ein unterwürfiges Ja. Beim Energieversorger Innogy gibt es deshalb eine Regel: Wer in der Hierarchie am weitesten oben steht, spricht in Sitzungen zuletzt. So kann niemand aus Opportunismus den Vorschlag des Chefs unterstützen. Die Deutsche Telekom untersucht derzeit ebenfalls, wie sie die Widerspruchskultur fördern kann.
Ja-Sager schaden dem Unternehmen – und sich selbst
Zu häufig haben Skandale oder Gesetzesverstöße die Reputation großer Konzerne gefährdet. Auch weil sich niemand mehr traute, anderer Meinung zu sein – und das auch zu sagen. Stattdessen übten sich viele Angestellte in Gehorsam. „Solche Mitarbeiter sind eine Gefahr“, sagt BWL-Professor Torsten Biemann von der Universität Mannheim, „vor allem in Abteilungen für Forschung und Entwicklung.“ Sie blockierten Innovationen, weil sie Ideen des Vorgesetzten abnickten, statt eigene zu entwickeln. Das schade sowohl dem Unternehmen als auch der Karriere.
Davon ist auch Coach und Autor Martin Wehrle überzeugt, der mit dem Buch „Sei einzig, nicht artig“ eine Anleitung zum gut begründeten Widerspruch verfasst hat: „Wer oft Nein sagt, macht sein Ja dadurch kostbarer.“
Trotzdem zelebrieren nur wenige den Widerspruch. Das Meinungsforschungsinstitut TNS Emnid fragte 1000 Deutsche, gegenüber welchen Personen sie die größten Hemmungen haben, Nein zu sagen. Am schwersten fiel es ihnen bei Freunden, Kindern und Eltern. Doch noch vor dem Partner rangierte der Chef: 47 Prozent der befragten Frauen und 36 Prozent der Männer hatten ein Problem damit, Bitten und Befehle des Vorgesetzten abzulehnen.
Doch woher kommt unser Zögern? Warum haben wir Hemmungen, etwas abzulehnen, was wir gerne ablehnen würden?
Das Ja-Sagen wird uns antrainiert
Weil uns das Jasagen antrainiert wird. Bereits Kleinkinder werden belohnt, wenn sie sich verhalten, wie es ihren Eltern gefällt. Und diese Prägung zieht sich durchs Leben. Der eine verspricht sich von Zustimmung ein Plus an Beliebtheit, der andere erfüllt vorauseilend Erwartungen und simuliert etwa Fleiß, weil er glaubt, damit beim Chef besonders gut anzukommen. Hinzu kommt: Haben Angestellte bereits eine gute Position im Unternehmen erreicht, wollen sie ihre Kollegen und Vorgesetzten nicht enttäuschen. Noch ein weiteres Projekt, obwohl die Arbeitszeit knapp ist und der Terminkalender voll? Warum nicht!
Nein-Sagen ist eine Form von Selbstwert
Solche Fälle kennt auch Julia Siems. Die 50-Jährige arbeitet seit 15 Jahren für die Personalberatung von Rundstedt und muss ihren Klienten häufig erklären, warum ein Nein wichtig ist. Eine ihrer Mandantinnen hatte jahrelang in einem Konzern gearbeitet, ohne eine Aufgabe abzulehnen. Sie steckte viel Zeit in ihren Job; wollte aufsteigen, bloß nicht anecken. Eine klassische Jasagerin. Umso härter traf es sie, als ihr im Zuge einer Umstrukturierung gekündigt wurde. Ihre Vorgesetzten hatten nicht bemerkt, wie wichtig sie war, wie viele Aufgaben sie anstandslos übernommen hatte. „Nur wer seine Grenzen aufzeigt, kann anderen deutlich machen, wie viel die eigene Arbeit wert ist“, sagt Siems. Wer weiß, wie gut er ist, kann sich ein Nein leisten.
Eigentlich eine Binsenweisheit: Nur derjenige kann beständig gute Resultate abliefern, der sich selbst nicht überlastet. Wer jeden Auftrag annimmt, mag den Eindruck erwecken, strebsam zu sein. Doch lässt die Qualität der Arbeit nach, schlägt das positive Empfinden ins Gegenteil um: ungenau, schlampig, unpünktlich – so lauten dann die Bewertungen, die dem einst so beliebten Tausendsassa anhaften.
Eine weitere Gefahr für alle Jasager: Wer immer zur Stelle ist, wird von den Kollegen gern vorgeschoben und ausgenutzt. Mit der Folge von „Überforderung und Scheitern“, sagt Thomas Hoffmann von der Personalberatung Robert Half – und im schlimmsten Fall auch mit der Folge eines Burn-outs.
Ja-Sager werden ausgenutzt
Das weiß auch Lars Kaiser, der seinen richtigen Namen lieber nicht veröffentlicht sehen möchte. Jahrelang hat er mit Freude in der Personalabteilung eines Unternehmens gearbeitet. Doch die Hilfsbereitschaft, die für Kaiser selbstverständlich war, wurde auch für die anderen Mitarbeiter zur Normalität. Kaiser bemerkte das zunächst gar nicht und gewöhnte sich an das hohe Pensum – bis eines Tages nichts mehr ging. Die Ärzte diagnostizierten einen Burn-out, Kaiser musste für ein Jahr in eine Klinik. Danach wollte er zurück in den Job, hatte aber Angst vor einem Rückfall. Deshalb suchte er Unterstützung bei Karriereexpertin Siems. Sie musste ihm erst einmal beibringen, wie das geht: Aufträge abzulehnen, Kollegen abzuwimmeln – Nein zu sagen.
Denn natürlich ist es mit einem einfachen Einspruch nicht getan. Zu groß die Gefahr, als Faulenzer oder Abblocker zu gelten. Deshalb rät Siems: „Begründen Sie Ihr Nein, und machen Sie Kompromissvorschläge.“ Dann fühle sich auch niemand schlecht behandelt.
Um sich auch gegen erfahrene Überredungskünstler zu wappnen, kommt es auf den Wortlaut der Ablehnung an. Zwei US-Wissenschaftler der Universität in Houston etwa haben mithilfe verlockender Süßigkeiten getestet, wie Menschen sich davor schützen können, nachzugeben. Die Marketingexperten teilten 120 Studenten in zwei Gruppen auf. Alle sollten den köstlichen Versuchungen widerstehen. Die einen, indem sie sagten: „Ich sollte keine Süßigkeiten essen.“ Die anderen, indem sie sagten: „Ich esse keine Süßigkeiten.“ Beim Verlassen des Raumes wurden ihnen beiläufig Schokoriegel oder Müsliriegel als Dankeschön angeboten. Und siehe da: Nur 36 Prozent der „Ich esse keine Süßigkeiten“-Gruppe wurden schwach und vernaschten den Schokoriegel. Von den anderen hingegen griffen 61 Prozent zu. Die Schlussfolgerung: Je klarer die Testpersonen ihren Standpunkt für sich selbst formulierten, umso einfacher fiel es ihnen, Nein zu sagen.
Wer an seiner eigenen Standfestigkeit zweifelt, kann es auch dem Chef überlassen, Prioritäten zu setzen. Dann sollte er aber gleichzeitig erklären, was daraus für die Abgabetermine anderer Projekte folgt. So entledigt er sich der Entscheidung und macht auf sein Pensum aufmerksam. Denn noch immer haftet Neinsagern das Image des Blockierers an – zu Unrecht. „Ein Nein ist keine Entscheidung gegen das eine“, sagt Buchautor Wehrle, „sondern für das andere.“ So sah es auch Apple-Gründer Steve Jobs: „Die Menschen glauben, dass wahrer Fokus bedeutet, zu einer Sache Ja zu sagen und sich ihr völlig zu verschreiben.“ Aber genau darum gehe es nicht: „Innovation bedeutet, zu 1000 anderen Ideen Nein zu sagen.“