Ein Gastbeitrag von Gordon Euchler/University of Cambridge, Nils Liedtke/McKinsey & Company und Nils Haseborg/Bridgehouse
Den ersten Teil verpasst? Hier können Sie das Lesen nachholen.
3. Der roteste aller roten Ozeane
Die bekannte Blue-Ocean-Strategie [1] soll Unternehmen helfen, Innovationen zu entdecken. Sie sollen den wettbewerbsintensiven Red Ocean verlassen und einen neuen, freien, unberührten, wachstumsträchtigen Blue Ocean entdecken. Aus unserer Sicht liegt der Blue Ocean aber nicht immer vor uns. Sondern mitunter hinter uns – da, wo das größte anzunehmende Problem einer Kategorie zu finden ist. Das Problem, das so groß ist, dass keiner sich traut, es anzugehen.
Tesla begab sich in den Red Ocean der Autoindustrie. Das Problem, das bis dato keiner angegangen war: die Entwicklung eines luxuriösen Elektroautos. Tesla brachte es auf den Markt und verkaufte in Europa in der Luxusklasse 2017 bereits mehr Autos als die Platzhirsche BMW und Mercedes, und mit dem günstigen Model 3 dürfte der Vorsprung weiter wachsen.
4. Von „Higher Purpose“ to „Deeper Problems“
Der „Purpose“ ist laut Forbes mittlerweile der heilige Gral des Marketings. Alle jagen ihm nach, denn der wohlbeschriebene Purpose ist der Grund für die Existenz eines Unternehmens. Aus ihm lassen sich alle weiteren Handlungen, Produkte, Services und Prozesse ableiten. Und man findet ihn, indem man – ausgehend von den Unternehmensaktivitäten – fragt, warum diese so sind, wie sie sind. Wenn man eine Antwort hat, fragt man nach Kinderart wieder: ‚Warum?‘. Mindestens fünf Mal. So kommt man zu immer profunderen Antworten. Analog dazu schlagen wir Entscheidungsträgern im Marketing vor, sich von einem Ursprungsproblem immer tiefer zu immer besseren Problemen durchzufragen.
Der CEO der Supermarktkette Sainsbury’s hatte ein höchst ambitioniertes Ziel: 1,2 Milliarden britische Pfund mehr Umsatz pro Jahr. Eine Herkulesaufgabe. Um dieses Ziel zu erreichen, hätte Sainsbury’s mehr als 100.000 Kunden anderer Ketten für sich gewinnen müssen. Ein beinahe unlösbares Problem, denn Käufer sind träge und gehen vor allem danach, welcher Laden für sie besonders günstig liegt – nah an der eigenen Wohnung, nah am Arbeitsort oder auf dem Weg von A nach B. Aber Sainsbury’s gelang es, das Umsatzproblem durch Vertiefung in ein Verhaltensproblem umzuformen. Denn Millionen von Menschen kauften ja schon bei Sainsbury’s. Regelmäßig. Alles, was man erreichen musste, war, dafür zu sorgen, dass sie bei jedem Einkauf ein kleines bisschen mehr in den Einkaufskorb legen. Durchschnittlich 1,14 britische Pfund, um genau zu sein. Und so wurde die Herkulesaufgabe lösbar. Die dazugehörige Kampagne generierte 1,35 Milliarden britische Pfund zusätzlichen Umsatz im ersten Jahr und übertraf damit sogar das kühne Ziel des CEOs.
5. Jobs to be done. Problem anyone?
Jobs-To-Be-Done ist einer der wenigen strategischen Ansätze, die das Problem der Kunden in den Mittelpunkt stellen.[2] Es wird explizit gefragt: „What progress, struggle and circumstance is the customer hiring you for?” Das ist gut, denn so stehen das Problem und die Suche danach im Mittelpunkt. Dieser Ansatz führt zu interessanten und vor allem relevanten Lösungen. Aber manchmal kann das entdeckte Problem sogar so wichtig und spannend sein, dass es selbst zur Lösung wird.
Jahrelang bot die Londoner Polizei potenziellen Bewerbern den Beruf des Polizisten als Lösung ihres persönlichen Problems – der Arbeitssuche − an, mit Vorteilen wie Jobsicherheit und Altersabsicherung. Trotzdem blieben viele wichtige Stellen unbesetzt, denn den Bewerbern mangelte es an den nötigen Qualifikationen. Bis jemand merkte, dass man den richtigen Menschen diesen Beruf nicht als Lösung anbieten musste. Sondern als Problem. Wie schwer man es als Polizist hat. Wie viel man einstecken muss. Pöbeleien. Prügeleien. Und wie gefährlich er ist. Eine solche Kommunikation würde alle ungeeigneten Bewerber abschrecken. Und diejenigen, die echte Herausforderungen suchen, besonders ansprechen. Und genau diese Probleme des Polizistenjobs wurden Thema der Recruiting-Kampagne. Die Kosten pro besetzter Stelle sanken so um neun Prozent (Quelle: IPA).
Bessere Probleme
Mit all diesen aus anderen Kontexten bekannten strategischen Tools kann man also nicht nur Strategien entdecken, sondern auch Probleme. Aber obwohl deren Anwendung in den genannten Fällen sehr produktive Probleme und erfolgreiche Lösungen generierte, so mangelt es bis jetzt – anders als bei Strategien – noch an Methoden, um zu bewerten, wie gut ein Problem ist. Meist begnügt man sich damit, zu sagen, sie müssten smart[3] sein. Das ist ein Anfang, reicht aber bei Weitem nicht. Nur weil eine Strategie smart ist, würde man ja auch nicht sagen, sie sei gut. Dafür muss sie schon deutlich mehr leisten.
So wie die oben aufgeführten Beispiele. An ihnen zeigen sich entscheidende Merkmale guter Probleme. Vier, um es genau zu sagen. Kaum ein Problem wird auf Anhieb alle erfüllen. Schon zwei erfüllte Kriterien zeigen aber in der Regel, dass man auf einem guten Weg ist.
- Gute Probleme sind finanziell gewichtig: Die besten Probleme haben ihren Ursprung in der Business-Strategie und wirken sich auf die wirtschaftliche Performance eines Unternehmens aus. So wie bei McDonald’s, wo man im Frühstücksbereich unterdurchschnittliche Wachstumsraten erzielte. Oder bei Sainsbury’s, wo 1,2 Milliarden britische Pfund Umsatz fehlten.
- Der Ursprung eines guten Problems ist menschlich: Der Ursprung des wirtschaftlichen Problems sind Menschen, genauer: ihr Verhalten und ihre Einstellungen. Wie bei der Londoner Polizei. Wo Menschen sich nicht ins gemachte Nest setzen wollten, sondern eine Herausforderung suchten. Oder wie in Singapur, wo es darum ging, eine ebenso lästige wie hartnäckige Gewohnheit zu bekämpfen.
- Gute Probleme sind eigenartig: Weil sie in unbekannte Bereiche vorstoßen und Wege erschließen, die noch nicht beschritten wurden.
- Gute Probleme machen Lust: Auf Lösung. Und zwar bei möglichst vielen Beteiligten. Wie die Reise zum Mond, die 1961 unvorstellbar erschien und gerade deshalb ungeahnte kreative Kräfte freisetzte. Solche Probleme sind unbezahlbar. „Not because they are easy, but because they are hard.“[4]
Werde Teil des Problems
Wer ein solches Problem entdeckt, gewinnt gleich mehrere Vorteile. Denn die Lösungsentwicklung beginnt in einem Bereich, in dem sich nicht schon rudelweise Wettbewerber drängeln. Und ein solches Problem beeinflusst die gesamte folgende Wertschöpfungskette. Eben all das, was ein Unternehmen anstellt, um das schöne Problem endlich wieder loszuwerden. Und damit wird ein Problem zu einem großen Wachstumshebel. Dieser ist vielleicht nicht einfach zu entdecken, aber für Wettbewerber gerade deswegen auch nicht einfach zu imitieren.
Zugegeben: Ein gutes Problem erfordert auch eine ganze Menge Mut und Vertrauen. Entscheidungsträger in Unternehmen müssen sich auf die Suche nach Problemen machen und diese dann auch ihren Dienstleistern offenbaren. Oder diese sogar dazu aufzufordern, ihrerseits gute Probleme zu suchen. Gute Dienstleister geben sich nicht mit dem im Briefing beschriebenen Problem zufrieden. Sie suchen auf eigene Faust nach besseren, größeren Problemen und sprechen diese offen an – auch wenn es weh tut. Wer als Entscheider oder Dienstleister solchen Wagemut aufbringt und dem Unternehmen dadurch zu einem echten Wachstumssprung verhilft, wird nie wieder um einen Platz auf der Agenda des Vorstands kämpfen müssen.
Es lohnt sich also, Teil des Problems zu sein. Und während Alexa, Siri und Co. schon jetzt ganz passable Antworten geben, fehlt ihnen einstweilen noch die schöpferische Kraft, die nötig ist, um jenseits von „Did that answer your question?“ wirklich gute Fragen zu stellen. Vielleicht gibt es demnächst ja einen Löwen für das „beste Problem“. Oder einen Effie. Wir würden uns freuen.
Über die Autoren
Gordon Euchler machte seinen Doktor an der University of Cambridge. Danach tat er das einzig logische und startete als Planner in der Werbung und entwickelt Strategien für Marken wie die Deutsche Telekom, Allianz, Electrolux, Aspirin oder Postbank. Er ist seit 2017 Head of Planning bei BBDO in Düsseldorf.
Nils Haseborg ist bei Bridgehouse Trainer für Kreativität, Innovation und kreative Führungskräfte. Er arbeitete bis vor Kurzem als Executive Creative Director für eine der besten Agenturmarken Deutschlands. Davor arbeite er über zehn Jahre als Creative Director für verschiedene führende Agenturen in Hamburg und Berlin.
Nils Liedtke ist Senior Expert im Brüsseler Büro von McKinsey & Company und berät insbesondere Konsum- und Automobilklienten zu strategischen Marketing- und Wachstumsfragen.
Ein kleines PS von den Autoren: Wir bedanken uns bei Cornelius Grupen, ohne dessen eleganten Schreibstil Sie wahrscheinlich schon nach dem ersten Absatz ausgestiegen wären.
[1] Harvard Business Review, Blue Ocean Strategy, Kim & Mauborgne
[2] Harvard Business Review ‘Know Your Customers’, “Jobs to be done”, Christensen et al.
[3] Specific, measurable, achievable, relevant, time bounded
[4] https://er.jsc.nasa.gov/seh/ricetalk.htm