Wer Karenztage fordert, dem fehlt die Vision

Der Allianz-Chef wirft die Diskussion auf, ob Arbeitnehmende für den ersten Krankheitstag kein Gehalt bekommen sollten. Die Diskussion ist aus mehreren Gründen Irrsinn. Und: Dass Arbeitnehmende überhaupt häufiger krank sind, ist gar nicht so klar.
Symbolfoto zum Thema Krankschreibung. Die Worte  ohne Krankschreibung  werden in einem digitalen Zeiterfassungsprogramm angezeigt. Berlin, 08.01.2025. Berlin Deutschland *** Symbol photo on the subject of sick leave The words  without sick leave  are displayed in a digital time recording program Berlin, 08 01 2025 Berlin Germany Copyright: xThomasxTrutschelx
Soll der erste Krankheitstag vergütet werden? Dazu gibt es unterschiedliche Positionen. (© Imago / Thomas Trutschel)

„Das gesamte System schafft falsche Anreize für Menschen, sich vom Sicherheitsnetz in die soziale Hängematte zu begeben“, sagt Allianz-Chef Oliver Bäte. Man könnte über das rant-artige Interview des CEO im „Handelsblatt“ müde lächeln. Mit der Aufmerksamkeit, die Bäte nach seiner Forderung der Wiedereinführung eines Karenztages bekommt, dürfte er jedoch selbst kaum gerechnet haben.

Der Vorschlag, dass Arbeitnehmende für den ersten Tag einer Krankheit künftig kein Gehalt bekommen sollten, stößt vielerorts auf laute Ablehnung. Die ganze Absurdität wird aber erst bei einem genaueren Blick darauf klar, was das eigentlich bedeuten würde.

Dabei ist das Interview von Bäte vor allem Symptom einer falschen Prioritätensetzung: Die Kommunikation viel zu vieler Wirtschaftsunternehmen und vermeintlicher Wirtschaftsversteher ist nicht getrieben von einer positiven Vision, sondern von einem negativen Menschenbild.

Dabei scheint mangelnder Bock in der Realität gar nicht das Problem: EY hat bei einer Befragung herausgefunden, dass das Management von 115 deutschen Industrieunternehmen nur in seltenen Fällen ein Problem in Motivation und Krankenstand sieht. Die laut kommunizierten Probleme dürften also eher Ausnahme als Regel sein. 

Ob die Deutschen wirklich öfter krank sind, ist nicht so klar

Das hält Bäte aber nicht von einer pauschalen Gesellschaftskritik ab. „Deutschland ist mittlerweile Weltmeister bei den Krankmeldungen“, sagt er den Kolleg*innen von unserem Schwestermedium.

Dass es wirklich ein Mehr an Krankentagen gibt, ist aber gar nicht so klar, wie behauptet. Wissenschaftler*innen des Leibniz-Zentrums für europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) erklären den statistischen Anstieg anders: Vor 2022 haben die Krankenkassen Krankmeldungen oft nicht bekommen. Mittlerweile bekommen sie die automatisch. Deswegen gehen mehr Meldungen in die Statistik ein. Nur weil die Statistik also eine höhere Zahl ausweist, muss der Krankenstand real nicht höher sein.

Zweifelsohne: Es gibt sie, die Minderleister und Drückebergerinnen. Aber Bundesarbeitsminister Hubertus Heil bringt es doch ganz gut auf den Punkt, wenn er feststellt, dass das eine Minderheit ist: „Die Deutschen sind keine Drückeberger und Faulenzer“, sagt er. Eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, betont Heil außerdem, könnten Unternehmen auch heute schon ab dem ersten Tag verlangen. Wenn Unternehmen glauben, dass Mitarbeitende blau machen, dann gibt es also eine Maßnahme. Meine Vermutung, warum sie die oft nicht nutzen: Die Unternehmen wissen, dass die meisten Arbeitnehmenden wirklich krank sind. Brauchen sie den gelben Schein schon ab Tag eins, fallen sie womöglich länger aus, als wenn sie sich nach eigenem Ermessen ein oder zwei Tage erholen können. Solange nämlich, wie es der Schein sagt. Außerdem würden die Unternehmen damit in einem anderen Bereich Aufwände erzeugen: Mehr benötigte Atteste bedeuten mehr Praxisbesuche.

Hubertus Heil weist zudem darauf hin, dass eine Regelung, wie von Bäte gewünscht, Geringverdienende überhart treffen würde – und damit insbesondere Frauen stärker benachteiligen würde. Schon im Sinne der Geschlechtergerechtigkeit können wir uns Karenztage also kaum leisten.

Mit Karenztagen lassen sich keine 40 Milliarden einsparen

40 Milliarden Euro Einsparungen für Gehälter von kranken Mitarbeitenden wünscht sich Bäte. Alleine über die Einführung der Karenzzeit lässt sich diese Summe aber nicht generieren. Denn dann müssten die Hälfte aller Krankheitstage auch Karenztage sein. Es gibt Berechnungen, die zeigen, dass die tatsächliche Zahl der Karenztage eher in Richtung 10 Prozent geht. Die Einsparungen lägen dann unter zehn Milliarden Euro. Durch den beschriebenen Effekt der längeren Krankmeldungen dürfte diese Summe noch geringer ausfallen. Weit weg also von der durch Bäte suggerierten Summe.

Dazu kommt: Diesen Einsparungen stehen zwei relevante Aspekte gegenüber. Wenn sich Menschen tatsächlich weniger krankmelden, tun sie das teilweise, obwohl sie eigentlich Erholung bräuchten. Die Gefahr besteht, dass diese Menschen in Folge sogar länger ausfallen. Oder zuvor gesunde Kolleg*innen anstecken. Ein Karenztag könnte Unternehmen dann teuer zu stehen kommen.

Der zweite Aspekt: Die Lohnabrechnung wird für die Unternehmen bürokratischer. Die Wirtschaft würde sich selbst also mehr Bürokratie erzeugen. Gerade die Wirtschaft, die seit Längerem andauernd über zu viel Bürokratie klagt.

Die wirklichen Einsparungen dürften insofern eher gering sein. Der Preis allerdings ist hoch, weil der Allianz-Chef mit seinem Hintern vieles einreißt, was die New-Work-Bewegung mühsam aufgebaut hat. Freiheit, Selbstverantwortung und soziale Verantwortung gelten plötzlich nichts mehr. Menschen werden für kleinere Einsparungen unter Generalverdacht gestellt. Und das für eine Diskussion, die mit größter Wahrscheinlichkeit ohnehin verhallen wird.

Auf eine gesunde Woche!

Offenlegung: Der Autor arbeitet auch für das Bundesministerium für Arbeit und Soziales, dessen Minister er in dieser Kolumne zitiert.

(fms, Jahrgang 1993) ist UX-Berater, Medien- und Wirtschaftsjournalist und Medien-Junkie. Er arbeitet als Content-Stratege für den Public Sector bei der Digitalagentur Digitas. Als freier Autor schreibt er über Medien und Marken und sehr unregelmäßig auch in seinem Blog weicher-tobak.de. Er hat Wirtschafts- und Technikjournalismus studiert, seinen dualen Bachelor im Verlag der F.A.Z. absolviert und seit mindestens 2011 keine 20-Uhr-Tagesschau verpasst.