Von Boris Gloger
Die Zukunft bahnt sich ihren Weg. Radikal und unaufhaltsam. Gerade ist sie im Hamburger Stadtteil Eimsbüttel unterwegs. Dort sitzt die Onlineagentur Elbdudler. Bekannt geworden ist sie einer breiteren Öffentlichkeit durch ihr vergleichsweise ungewöhnliches Gehaltsmodell. Jeder Mitarbeiter entscheidet dort, wie viel er verdient. Was auf den ersten Blick wie ein paradiesisches Szenario für herkömmlich denkende Angestellte anmutet, ist auch aus Unternehmersicht überlegenswert.
Damit das Modell tatsächlich funktioniert, müssen sich nämlich alle auch überlegen, was sie dazu beitragen können, damit etwa der Pro-Kopf-Umsatz stimmt. „Wie man die Produkte verbessert, welche Projekte sich lohnen, für welche Dinge man Geld ausgeben muss, und wo man sparen kann. Dann setzt bei jedem das unternehmerische Denken ein“, begründet Elbdudler-Geschäftsführer Julian Fester gegenüber der Wochenzeitung „Zeit“ die Entscheidung. Der Chef selbst erscheint hier vor allem in der Rolle des Enabler.
Konkrete Einblicke in die Geschäftszahlen, Transparenz über die Gehälter, strategische Überlegungen, wie der Jahresgewinn investiert wird – es sind hierzulande vor allem Dienstleister wie Elbdudler oder die Event- und Produktionsfirma CPP-Studios sowie die Unternehmensberatung Vollmer & Scheffcyzk, die ein solches modernes System praktizieren. Fehlanzeige dagegen bei den großen traditionellen Konzernen.
Neue Firmenstrukturen, neue Arbeitswelt
Und das hat handfeste Gründe: Eine solche Aufstellung rüttelt an den Grundfesten heutiger Firmenstrukturen. Traditionell ist in klassischen Unternehmenspyramiden jeder Mitarbeiter allein der nächsthöheren Managementstufe gegenüber verantwortlich. Seine Handlungen werden von „oben“ bewertet. Dadurch entsteht eine Kommunikationsstruktur, die sich bis zum Topmanagement zieht, das nur noch den Shareholdern gegenüber verantwortlich ist. Doch solche Strukturen sind sicher nicht dazu geeignet, flexibel und selbstorganisierend zu reagieren. Der amerikanische Ökonom Gary Hamel fordert deshalb zu Recht eine Umkehrung dieser „Rechtfertigungspyramide“: Ein Manager müsste dafür sorgen, dass die Mitarbeiter, für die er verantwortlich ist, durch ihn einen Nutzen haben – mit dem Ziel, ihre Arbeit effektiver und schneller zu machen.
Ein praktisches Beispiel dazu liefert Ryan Tomayko, Director of Engineering des Unternehmens Github. Die Firma bietet einen webbasierten Hosting-Dienst für Softwareentwicklungsprodukte an. Tomayko arbeitet mit den Mitarbeitern und trainiert diese, indem er ihnen nicht sagt, wie sie arbeiten sollen, sondern es ihnen zeigt.
Dazu benötigen Manager allerdings profunde Kenntnisse darüber, was ihre Kollegen tun und wie man die Arbeit tatsächlich durchführen sollte.
Wenn man außerdem davon ausgeht, dass es in „schnellen“ wissensbasierten Organisationen schnelle Entscheidungen geben muss, wird durch die Rollenverteilung klar, dass die Mitarbeiter selbst Entscheidungen treffen müssen. Der Manager muss immer noch per se jemand mit Sachverstand sein, aber er hat in seiner primären Rolle als Stratege dafür zu sorgen, dass klar ist, unter welchen Rahmenbedingungen die Mitarbeiter selbst entscheiden können. Die Ergebnisverantwortung liegt damit beim Mitarbeiter selbst und bleibt auch dort. Der konsequent nächste Schritt wäre, dass Mitarbeiter auch bestimmen, wer sie managen soll. Das wohl bekannteste Beispiel dazu ist Ricardo Semler, einer der unkonventionellsten Denker in der Diskussion um Management und Führung. Er fragte sich, wieso ein Mitarbeiter von einem Menschen geführt werden sollte, den er nicht dazu bestimmt hat. In seinem Unternehmen Semco, einem überaus erfolgreichen Maschinenbauer in Brasilien, findet sich genau dieses Prinzip wieder.
Der Mitarbeiter als Bestimmer
Trotz großer Skepsis wurde die 1959 gegründete Produktionsfirma in den frühen Achtzigern radikal auf ein unautoritäres System umgestellt. Semler vertritt die Idee, Unternehmen konsequent zu demokratisieren, und hat dies selbst umgesetzt: So werden bei ihm alle Entscheidungen per Mehrheitsbeschluss durch die Betroffenen sowie Anwesenden getroffen. Semler geht so weit, dass Mitarbeiter ihre Gehälter selbst bestimmen können – in einem transparenten Entscheidungsprozess. Die Mitarbeiter bestimmen ihre Arbeitszeiten und entscheiden auch, welche Möbel sie nutzen. Also genau so, wie es die Digitalagentur Elbdudler jetzt initiiert hat. Man möchte ihnen an dieser Stelle zurufen: Durchhalten! Ricardo Semler hat in seinem Unternehmen für diesen Weg 15 bis 20 Jahre gebraucht. Der Erfolg gibt ihm recht: Laut dem Nachrichtenmagazin „Spiegel“ steigerte das Unternehmen unter seiner Regie den Umsatz um das 500-Fache.
Es geht aber noch einen Schritt extremer: Was wäre, wenn wir das Management komplett abschaffen und damit den Mitarbeitern nicht nur die Kontrolle über ihr Handeln, sondern ihnen gleichzeitig auch die Verantwortung dafür geben? So gewagt diese These ist, in der Praxis wird das bereits gelebt: Morning Star, ein Unternehmen aus der Lebensmittelbranche, das sich auf Tomatenweiterverarbeitung spezialisiert hat, verzichtet zur Gänze auf Bosse, Titel oder Beförderungen.
Konsequenterweise bezeichnet sich Morning Star selbst als „Selfmanagement Institute“. In der von Chris Rufer 1970 gegründeten Firma werden die Gehälter über Komitees festgelegt, und jeder schließt einen jährlichen Vertrag, einen sogenannten Colleague Letter of Understanding (CLOU) ab – ein persönliches Mission-Statement den Kollegen gegenüber, die von den eigenen persönlichen Zielen am meisten betroffen sind. Im Wesentlichen handelt es sich dabei um einen operativen Plan, also um eine Grundlage für die tägliche Arbeit.
Wenn der Einzelne autonom agiert
Gibt es vielleicht schon Organisationen, die genau das tun: Mitarbeiter anhand von Inhalten ausbilden und sie immer im Kontakt mit den Kunden halten; in denen administrative Tätigkeiten auf ein Minimum reduziert werden, weil es darauf ankommt, Lösungen zu finden? Gibt es Firmen, die schon immer so gestaltet waren, dass der Einzelne autonom agieren und daher selbst sehr viel wissen muss? Firmen, in denen eine Struktur existiert, mit der sich bis zu 100 000 Mitarbeiter und mehr organisieren lassen? Die Antwort lautet: Ja, Professional Service Firms – also beispielsweise Werbeagenturen, Marketingberatungen, Anwaltskanzleien, Krankenhäuser, Managementberatungen, Ingenieurbüros, Softwareentwicklungsunternehmen.
Die Mitarbeiter besitzen das Kapital des Unternehmens, denn das Produkt, das diese Unternehmen verkaufen, ist „Wissen“, das sich zum größten Teil in den Köpfen der Mitarbeiter befindet. Gleichzeitig muss man sich in diesen Firmen darüber Gedanken machen, wie man die Mitarbeiter ständig weiter ausbildet. So schmal die Gratwanderung auch ist: Sie wird in einer Wissensgesellschaft zur Blaupause der bisher eher schwerfälligen Organisationsformen der Konzerne.
All das wird dazu führen, dass die Mitarbeiter mehr und mehr Verantwortung übernehmen werden und müssen. Es wird dazu führen, dass diese Kollegen zu Unternehmern in den Unternehmen werden und sie daran gehen werden, diese Unternehmen zu gestalten. Hin zu Organisationen, die, weil jeder Einzelne ein Interesse an der optimalen Ausrichtung hat, sofort auf den Markt reagieren können. Der Manager als Position in Unternehmen – ihn wird es immer geben, jedoch in viel geringerem Umfang, als wir es in den meisten Firmen heute sehen. Die Manager, die dann noch übrig bleiben, werden lernen müssen, wie sie ihren Kollegen den Raum zur Verfügung stellen, damit diese diesen Raum (die Firma) optimal gestalten können.
Boris Gloger, 45, ist Gründer und Geschäftsführer der gleichnamigen Beratung mit Sitz in Baden-Baden und Wien, die auf das Management-Framework Scrum spezialisiert ist. Er ist Autor zahlreicher Bücher, darunter „Das Scrum-Prinzip: Agile Organisationen aufbauen und gestalten“.