Als Musterbeispiel moderner Kontrolltechnologien kann das „auditing“, die Wirtschaftsprüfung, betrachtet werden. Eine reflexiv-kritische Analyse kurz vor der Jahrtausendwende kennzeichnet moderne Gesellschaften mit dem Begriff „The Audit Society“ (Michael Power, 1999). Dafür, dass er dem Thema „audit“ so viel Aufmerksamkeit widmet, entschuldigt sich der Autor zunächst. Er begründet die Beschäftigung dann aber in Anlehnung an den Philosophen Michel Foucault umgehend damit, dass es eben oft die „boring practices“ – also diejenigen Praktiken, die nicht unbedingt im Rampenlicht der öffentlichen Aufmerksamkeit stehen – sind, die das gesellschaftliche Zusammenleben am nachhaltigsten beeinflussen.
Vertrauen wird verspottet
Die Studie beschreibt, wie wir in den letzten Jahrzehnten den Schockwellen der „audit explosion“ ausgesetzt sind. Der Audit in seinen unterschiedlichen Ausprägungen ist ein allgegenwärtiges Ritual in unserer Welt. Hinsichtlich seiner Wirksamkeit bleibt die Praktik merkwürdig unhinterfragt – eigentlich erleben wir (zu) oft, wie sie versagt (hat). Und ganz im Sinne ritualisierten Verhaltens bleibt sie hinsichtlich ihrer Konsequenzen unverstanden und wird „natürlich“ in immer mehr gesellschaftlichen Bereichen eingesetzt.
Der Audit steht lediglich stellvertretend für das inflationäre Auftreten immer neuer Prüf- und Kontrollmethoden. Immer enger getaktete Budget-, Forecast- und Reforecast-Runden mit den entsprechenden PowerPoint- und Excel-Sheet-Schlachten sind weitere mögliche Beispiele. Bei allen Unterschieden zwischen den einzelnen Methoden ist ihnen gemeinsam, dass sie großen Aufwand erfordern. Der Kontrollaufwand, den sich moderne Gesellschaften leisten, ist mithin immens und wächst ständig. Wir nehmen es achselzuckend hin, dass mit dem steigenden Kontrollaufwand eine andere gesellschaftliche Ressource, die den Kontrollaufwand minimieren könnte, mehr und mehr ungenutzt bleibt, ja sogar verspottet oder verachtet wird: Vertrauen.
Unhinterfragt bleibt, ob der betriebene Kontrollaufwand jeweils noch gerechtfertigt ist, also den versprochenen und erhofften Nutzen hinreichend erbringt: Wird Machtmissbrauch eingedämmt? Werden kriminelle Energien seltener freigesetzt? Werden Schäden in wirtschaftlicher, sozialer oder ökologischer Hinsicht nachhaltig abgebaut? Die Ubiquität gegenteiliger Meldungen aus allen gesellschaftlichen Bereichen – deren Protagonisten von Wirtschaftsbossen bis zu Kirchenfürsten reichen – trüben entsprechende Hoffnungen. Was würde ein umfassender Audit der Auditisierung unter dem Strich wohl ergeben? Alles ordentlich geprüft. Aber mit zu hohem Aufwand bei zu geringem Ertrag? Darüber hinaus: Müsste man nicht auch möglicherweise auftretende Folgeschäden der Kontrollflutwelle bilanzieren? Da hilft ein Perspektivenwechsel, der danach fragt, was der zunehmende Kontrollaufwand bei den Kontrollierten bewirkt.
Das kontrollierte Ich
Der Perspektivenwechsel sollte zunächst mit einem möglichen Missverständnis aufräumen. Bei der Bewertung von Prüf- und Kontrollmechanismen sollten wir nicht an Polizei- oder Überwachungsmethoden denken. Ihre Wirkung entfalten die hier interessierenden Prüf- und Kontrollpraktiken, eben beispielsweise Audits gewaltfrei, ohne physischen Zwang, in einer sachlichen Atmosphäre des freundlich-konstruktiven Dialogs. Und doch geht ihre Wirkung unter die Haut, trifft betroffene Menschen und Organisationen mitten ins Herz und verändert persönliche Identitäten und Organisationskulturen grundlegend. Sie müssen verstanden werden als Versuche, „to re-order the collective and individual selves that make up organizational life“.
Einengende Kontrollsysteme, verdummende Zahlenfixierung
Was geschieht mit einem „auditee“, wenn er sich zunehmend Audits ausgesetzt sieht? Er gerät in Prüfungsstress, bereitet sich intensiv auf Prüfungen vor, ordnet seinen Alltag entsprechend, die Prüfung bestimmt schließlich den Alltag mehr als das Lernen. Der Geprüfte richtet entsprechende Systeme ein: umfangreiche Dokumentationen, detaillierte Checklisten, minutiöse Prozessschrittlisten, umfassende Verhaltensregeln, … Die Vorbereitung auf die externe Prüfung sorgt also – mit, aber eben auch ohne externen Druck – dafür, dass interne Selbst-Kontrollsysteme eingerichtet und laufend ausgeweitet werden.
Der Geprüfte richtet sein Denken und Handeln mehr und mehr daran aus, was im jeweiligen Audit abgefragt werden kann. Ein Audit sorgt naturgemäß dafür, dass Inhalt existiert, der geprüft werden kann. Im Kern sind dies „ex post facts“. Also eher sogenannte harte Daten als erfahrungsbasierte Einschätzungen, eher rückwärtsgewandte Berichte als ungesicherte Visionen, eher belastbare Ergebnisse als riskante Inspirationen, eher formale Regelentsprechung als professionelles Urteil. Dabei gibt der so Geprüfte seinen Anspruch auf, Mitarbeiter und Organisation zu führen. Er richtet sein Denken und Handeln aus an externen Erwartungen. Ein vielfach unbemerkter Prozess der Selbst-Aufgabe. Die kontinuierliche Erfahrung von Audits und die dauernde Erwartung von weiteren, immer enger getakteten und inhaltlich stets umfassenderen Audits initiieren und beschleunigen einen Prozess der Selbst-Disziplinierung in den betroffenen Organisationen und bei ihren Mitgliedern. Die Eckpfeiler dieses Prozesses: einengende Kontrollsysteme, verdummende Zahlenfixierung und entmündigende Regelfixierung. Der damit verbundene kognitive, zeitliche und finanzielle Aufwand muss im Sinne von Opportunitätskosten bilanziert werden wenn die Kontrollbemühungen bewertet werden. Die Selbst-Disziplinierung insbesondere des Führungspersonals wirkt – durchaus unbeabsichtigt und hinter dem Rücken der Betroffenen – wachstums-, innovations-, und motivationshemmend.
Die mit dem Begriff der „unintented consequences“ bezeichnete Wirkung des zeitgenössischen pathologischen Prüf- und Kontrollwahns lässt sich sehr prägnant und anschaulich durch eine besorgniserregende Kluft – beispielsweise im Agenturalltag – beschreiben: “a gulf has opened up between poorly rewarded `doing`and highly rewarded `oberserving`“.