Die derzeit beispiellose Situation trifft nach Einschätzung des Kreditversicherers Euler Hermes die deutsche Wirtschaft besonders hart. Zwar führt die konjunkturelle Aufholjagd nach der tiefen Corona-Rezession 2020 weltweit zu Hamsterkäufen der Unternehmen, die ihre Lagerbestände wieder auffüllen. Doch dabei haben vor allem hiesige Firmen oft das Nachsehen, wie die Volkswirte der Allianz-Tochter in einer am Montag veröffentlichten Studie feststellen.
„Hamsterkäufe sind aktuell in im globalen Handel“, sagte der Chef von Euler Hermes in Deutschland, Österreich und der Schweiz, Ron van het Hof. „Die USA haben im Rennen um die Waren dabei allerdings klar die Nase vorne – unter anderem aufgrund der früheren Wiedereröffnung.“ Die US-Konjunktur kam im laufenden Jahr deutlich früher und kraftvoller wieder in Gang als in Europa. Die Folge: Warenlieferungen aus China in die USA nähmen derzeit um rund 30 Prozent zu, nach Europa hingegen nur um etwa zehn Prozent, so ein Ergebnis der Studie.
Riesenproblem für deutsche Industrie
Für die deutsche Industrie ist das seit Monaten ein Riesenproblem: Zwar boomt zum Beispiel die Nachfrage nach Maschinen „Made in Germany“ nach dem Corona-Einbruch 2020. Aber um die steil steigenden Auftragsbestände abarbeiten zu können, fehlt es oft an Material: Nach einer vor kurzem veröffentlichten Umfrage des Münchner Ifo-Instituts beklagen inzwischen 64 Prozent der Firmen Engpässe und Probleme bei Vorlieferungen als Hindernis für ihre Produktion. „Bereits im Vorquartal meldeten die Unternehmen einen Rekordwert, dieser wurde nochmals deutlich übertroffen“, sagte Ifo-Experte Klaus Wohlrabe. Derzeit bedienten die Hersteller die Nachfrage noch aus ihren Lagern, „aber die leeren sich nun auch zusehends“.
So fußt die konjunkturelle Erholung in Deutschland vorerst nur auf der Konsumlust der Verbraucher, während die Materialprobleme die Industrieproduktion auf absehbare Zeit weiter dämpfen: Neben der vierten Corona-Welle drohten anhaltende Lieferschwierigkeiten bei Vorprodukten, „die noch intakte deutsche und europäische wirtschaftliche Erholung in der zweiten Jahreshälfte zu gefährden“, hat der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) bereits gewarnt.
Stark gestiegene Einkaufspreise
Ein weiteres Problem sind teilweise stark gestiegene Einkaufspreise – generell ein typisches Phänomen, wenn die Nachfrage anzieht, aber das Angebot nicht im gleichen Maß Schritt hält. Indizien, wie sehr Preiserhöhungen auf der Einkaufsseite der Unternehmen zu Buche schlagen, zeigen jüngste Daten des Statistischen Bundesamtes: Die Großhandelspreise lagen im Juli 11,3 Prozent über dem Niveau des Vorjahres – der stärkste Anstieg seit Oktober 1974 während der Ölkrise. Das erklären die Statistiker – neben besonders niedrigen Preisen vor Jahresfrist – mit „vielen aktuell gestiegenen Preisen für Rohstoffe und Vorprodukte“.
Für das Gesamtjahr rechnen die Volkswirte von Euler Hermes beim Volumen der weltweit gehandelten Waren und Dienstleistungen mit einem Plus von 7,7 Prozent, nach acht Prozent Minus im Vorjahr. Wegen deutlicher Preiserhöhungen dürfte demnach der Handel dem Wert nach aber sogar um 15,9 Prozent zulegen, nach einem Minus von 9,9 Prozent 2020. „Für den diesjährigen Anstieg des Werts der gehandelten Waren und Dienstleistungen macht die Normalisierung der Angebots- und Nachfragebedingungen allerdings nur etwa 15 Prozent aus – die Aufstockung der Lagerbestände hingegen etwa 50 Prozent.“
Zusätzlich 35 Prozent gehen demnach auf das Konto drastisch gestiegener Transportkosten im globalen Handel, der zum größten Teil auf dem Seeweg abgewickelt wird. Weil Transportkapazitäten knapp sind, schießen die Preise, die Containerreedereien verlangen, derzeit in die Höhe.
Preise für Fahrräder könnte bis zu 15 Prozent steigen
Die Gemengelage aus teilweise knapper Ware und steigenden Preisen dürfte auch beim Verbraucher ankommen. Nur ein Beispiel: Der Fahrradhandel klagte unlängst, dass manche Räder erst mit monatelanger Verspätung ausgeliefert werden, und der Zweirad-Industrie-Verband (ZIV) rechnet damit, dass die Preise für Fahrräder um 10 bis 15 Prozent steigen könnten.
Aus Sicht von Euler Hermes ist die Situation eine Art Weckruf für viele Unternehmen: „Lieferketten können brechen, egal ob sie global sind oder lokal“, sagt Deutschlandchef van het Hof. „Das hat die Corona-Pandemie gezeigt – aber auch die aktuelle Flutkatastrophe, bei der auch Lieferketten im eigenen Land unterbrochen wurden.“ Er rät Unternehmen dazu, „Notfallpläne für verschiedene Szenarien in der Tasche zu haben, um schnell und flexibel handeln zu können“.
Zudem dürfte die „Beziehungsqualität“ mit den eigenen Lieferanten eine immer größere Rolle spielen. „Eine partnerschaftliche Beziehung zu Lieferanten dürfte sich langfristig eher auszahlen, als aus diesen bei Liefervereinbarungen den letzten Cent herauszupressen.“
Von Thomas Kaufner, dpa