Es ist kein Vergnügen, in Deutschland E-Scooter zu verleihen. In fast allen Städten häufen sich die Klagen über Fahrzeuge, die den Weg versperren oder falsch geparkt sind. Auch nervt es, wenn sich die Fahrerinnen und Fahrer mit ihren lautlosen Rollern nicht an die Verkehrsregeln halten. Das Land Niedersachsen hat jüngst gemeldet, dass sich die Zahl der Unfälle mit E-Scootern im vergangenen Jahr mehr als verdoppelt hat. Auch „Trunkenheitsfahrten“ nehmen deutlich zu. Die Kommunen reagieren nicht selten mit strengen Vorgaben für den Betrieb der Scooter-Flotten, unter anderem mit festen Park- und Parkverbotszonen.
Zudem tobt ein harter Verdrängungswettbewerb. Im Oktober vergangenen Jahres verkündete das amerikanische Start-up Bird, sich neben Schweden und Norwegen auch aus Deutschland zurückzuziehen, wo man an rund 40 Standorten aktiv war. Der Grund: das Überangebot in vielen Städten, der fehlende rechtliche Rahmen, die schwache Konjunktur und wohl auch der Druck von Investoren – das 2017 gegründete Unternehmen ist als bislang einziger E-Scooter-Verleiher an der Börse gelistet und hat dort einen harten Einbruch erlebt. Nun wird weltweit massiv gespart.
In Deutschland verbleiben damit im Wesentlichen die Konkurrenten Tier, Lime, Bolt und Voi. Was die Zahl der Standorte angeht, ist der deutsche Anbieter Tier aktuell mit 104 Städten klarer Marktführer. Es folgen der US-Konkurrent Lime mit 60, Bolt aus Estland mit 56 und Voi aus Schweden mit 26. Hinzu kommt noch der niederländische Verleiher Dott, der in Aachen und Bonn aktiv ist. Die E-Scooter-Verleiher bieten häufig auch E-Bikes an.
Corona sorgt für hektisches Auf und Ab im Markt
Das Feld hat sich damit weiter gelichtet, viele weitere Player haben bereits aufgegeben oder wurden verkauft: Circ strich bereits 2020 die Segel und ging an Bird. Im selben Jahr gab Uber seine Marke Jump an Lime ab. Daimler und BMW haben ihren Dienst Hive 2021 eingestellt. Ford hat im Februar 2022 Spin aufgegeben, das von Tier übernommen wurde. Natürlich war es unglücklich, dass der Startschuss für den E-Scooter-Verleih in Deutschland ausgerechnet 2019 fiel, kurz bevor Corona ins Kontor schlug: Konjunkturkrise, Lockdowns und Homeoffice-Boom sorgten für ein hektisches Auf und Ab der Umsatzkurven. Hinzu kamen und kommen Lieferschwierigkeiten – das Gros der Leih-Scooter in Deutschland kommt von chinesischen Herstellern.
„Wir erwarten, dass sich der Markt für E-Scooter 2023 noch weiter konsolidiert“, sagt Patrick Grundmann, Pressesprecher DACH bei Tier. „Dabei wird die Regulierung durch die lokalen Behörden eine große Rolle spielen.“ Tier wurde 2018 in Berlin gegründet und ist mittlerweile in mehr als 260 Städten in 22 Ländern in Europa und dem Mittleren Osten aktiv. In Deutschland kam zuletzt, Ende November, Regensburg hinzu. 200 E-Roller hat Tier hier platziert. Bis Anfang April sollen es 300 sein, plus 250 E-Bikes.
Die Zeit der schnellen Expansion ist damit aber vorerst vorbei. „In den vergangenen Jahren war uns Wachstum wichtiger als Profitabilität“, sagt Grundmann. „Das ändert sich nun. Für 2023 peilen wir schwarze Zahlen an.“ Um das zu schaffen, wurden 2022 bereits viele Jobs gestrichen.
Städte sollen die Lizenzen für E-Scooter ausschreiben
Auch der amerikanische Konkurrent Lime, der sich als globaler Marktführer sieht, signalisiert mittlerweile schwarze Zahlen: Das Gesamtunternehmen stehe kurz davor, ein volles Jahr lang komplett profitabel gearbeitet zu haben, sagt Lukas Windler, Public Affairs Senior Manager (Stand: Ende Dezember 2022). „Wir haben 2022 in Deutschland unsere Belegschaft um 24 Prozent vergrößert“, so Windler. „Wir sind in neue Städte expandiert und haben in neue Fahrzeuge investiert.“
Tier, Lime und die weiteren verbliebenen Anbieter hoffen vor allem auf eine bessere Kooperation mit den Städten. Sie fordern klare und verlässliche Rahmenbedingungen, auch um allzu harten Konkurrenzkampf an einzelnen Standorten zu verhindern. Dazu könnten Ausschreibungen von Verleih-Lizenzen beitragen. In Frankfurt etwa, wo rund 18.000 Scooter durch das Stadtgebiet rollen, fordert das aktuell die oppositionelle CDU. Die Stadt könnte dann einem ausgewählten und limitierten Kreis von Anbietern genaue Vorgaben machen. Lime-Chef Wanye Ting hat sich auch öffentlich dafür ausgesprochen: „Fast jeder andere Markt in Westeuropa und Nordamerika nutzt ein Ausschreibungsmodell“, erklärte er kürzlich in einem FAZ-Interview. „So lässt sich sicherstellen, dass nur kompetente und finanziell stabile Verleiher zum Zuge kommen.“ Verleiher wie Lime also.
Die Roller-Fraktion zeigt sich auch sonst konstruktiv: Es gibt Apps mit Trainings für regelkonformes Fahren. Kürzlich haben fünf Anbieter gemeinsam die Website www.scooter-melder.de gestartet, über die man falsch geparkte Roller melden kann. Zudem wird an Technologien gearbeitet, die für mehr Ordnung auf den Straßen sorgen: „Wir können es über GPS verhindern, dass ein E-Scooter in einer No-Parking-Zone abgestellt wird“, betont Tier-Sprecher Grundmann. Damit wolle man dazu beitragen, „dass es künftig klar abgegrenzte Zonen zum Parken gibt, so dass keine Roller mehr ,wild‘ abgestellt werden“. Viel Potenzial sieht man auch in einer Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr. Tier und Voi etwa kooperieren mit der Münchner Verkehrsgesellschaft (MVG). E-Scooter der beiden Marken können direkt über die App „MVGO“ gebucht werden.
E-Scooter-Marken wirken bislang weitgehend austauschbar
Wie macht man in dieser Gemengelage Marketing? Schaut man sich die klassischen vier P’s an – Product, Price, Place und Promotion – erkennt man den engen Rahmen der Möglichkeiten. Denn das Produkt – der ausleihbaren Roller – wirken weitgehend austauschbar, auf den ersten Blick unterscheiden sie sich fast nur durch die Farben. In einem Test der Zeitschrift „Chip“ im vergangenen August in München schnitt Lime mit der Note 1,5 vor Bolt (1,6), Tier (1,7) und Voi (1,8) am besten ab. Die Differenzen sind also nicht groß – Lime punktet vor allem mit einem sehr guten Fahreindruck, bei Bolt dagegen fallen günstige Preise auf.
Der Faktor Promotion spielt auch keine große Rolle, weil keine großen Etats zur Verfügung spielen. Bleiben also Price und Place. Die Devise heißt also Standorte besetzen, und wenn schon andere da sind, an der Preisschraube zu drehen. Der E-Scooter-Tarif liegt meist bei einer Grundgebühr von einem Euro plus eine Gebühr zwischen 15 bis 25 Cent pro Minute. Auch über verschieden bepreiste Flatrates, Tages- und Monatspässe kann man sich von der Konkurrenz absetzen.
Natürlich gibt es auch Versuche der Markendifferenzierung: Tier hat im April 2022 eine Kampagne gestartet, die mit dem Markennamen spielt. Unter dem Motto „Sei mehr Tier“ riefen ein Video und Social-Media-Werbung dazu auf, sich die die umweltfreundliche Form der animalischen Fortbewegung zum Vorbild zu nehmen und auf CO2-Ausstoß zu verzichten (Agentur: Amsterdam 180). „Wir haben versucht, die Marke Tier mit Leben zu füllen und von der Konkurrenz abzugrenzen“, resümiert Grundmann. „Das ist aber sehr schwer, weil alle Anbieter wegen der bekannten Probleme in einen Topf geworfen werden. Entscheidend sind letztlich immer Preis und Verfügbarkeit.“
Alle Anbieter betonen umweltfreundlichen Anspruch
Die Tier-Kampagne weist aber auf das neue, fünfte P im Marketingmix hin: Purpose. Alle Anbieter betonen, dass E-Scooter den Verkehr in den Städten entlasten und für mehr Lebensqualität sorgen. Bolt etwa positioniert sich mit dem Versprechen „Sicher. Preiswert. Umweltfreundlich“ als „verantwortungsvoller Partner der Städte“. „Lasst uns unsere Städte neu gestalten“, fordert Voi. „Mobilität nachhaltig verändern“, heißt ein Slogan von Tier. 2021 wurde auch die Plattform Shared Mobility gegründet, über die sich Bolt, Lime, Uber und Voi für die Akzeptanz geteilter Mobilität engagieren.
Um den Anspruch der Nachhaltigkeit zu untermauern, hat Lime zudem in Kooperation mit dem Fraunhofer Institut für System- und Innovationsforschung ISI eine Studie durchgeführt. Sie ergibt, dass gemeinsam genutzte E-Scooter dazu beitragen, die CO2-Emissionen im Stadtverkehr zu reduzieren. Für die Studie wurden im Mai und Juni 2022 Lime-Nutzerinnen und Nutzer in sechs Städten – Stockholm, Paris, Melbourne, Berlin, Seattle und Düsseldorf – gefragt, welches Verkehrsmittel sie für eine zuletzt zurückgelegte Fahrt ohne die Verfügbarkeit eines E-Scooters oder E-Bikes gewählt hätten. Die Studie soll der Kritik entgegenwirken, dass auch E-Scooter einen beträchtlichen CO2-Fußabdruck haben und häufig nur Fuß- oder Fahrradverkehr substituieren.
Mit den „grünen“ Argumenten kann man sich zwar kaum differenzieren – für den Zukunftsoptimismus der Branche spielen sie aber eine Schlüsselrolle: „Der Markt für gemeinsam genutzte E-Scooter wird in Deutschland weiter wachsen“, sagt Lime-Kommunikator Lindner. „Mikromobilität ist nicht nur für größere deutsche Städte, sondern auch für die kleineren ein wichtiger Bestandteil, um die allseits gewünschte Verkehrswende zu realisieren und damit einhergehend die Dominanz des privat genutzten Pkw zu brechen.“