Was einst Laktose und Gluten waren, ist jetzt Zucker. Vor Zucker warnen seit Anfang vergangenen Jahres viele Blogger und Autoren. Sie unterziehen sich Zucker-Entzügen, veröffentlichen ihre Fortschritte im Netz und posten zuckerfreie Mahlzeiten. Alles zu finden unter dem Hashtag #sugarfree. Die erklärten Zuckergegner haben zudem einen Erzfeind auserkoren: die Industrie. Warum? Weil sich in Supermärkten kaum industriegefertigte Nahrungsmittel aufspüren lassen, die ohne Zucker auskommen. Stattdessen enthalten sie viele versteckte Zuckerarten wie Weizendextrin, Fruktosesirup oder Stärkesirup. Genau das frustriert die Zuckerfrei-Anhänger, die in ihren Selbstversuchen immer wieder – fast verzweifelt – versuchen, ihre Einkaufswagen mit leckeren Lebensmitteln ohne Extra-Süße zu füllen. Am Ende landen auf dem Kassenband dann ausschließlich unverarbeitete Lebensmittel wie Gemüse – womit man übrigens eine weitere Ernährungsweise bezeichnet, das #CleanEating.
Post über Post: #sugarfree und #nosugar
Wie groß die Zuckerfrei-Gefolgschaft in Zahlen ist, lässt sich zwar nicht offiziell beziffern. Doch ein Blick auf Instagram zeigt: Mit aktuell rund 3,3 Millionen Beiträgen unter dem Hashtag #sugarfree und rund 1,1 Millionen #nosugar-Posts scheint die Zuckerfrei-Welle keine unbedeutende Bewegung zu sein. Schon deshalb, weil Ernährung hierzulande oft zur Ersatzreligion erklärt wird.
Auch immer mehr Ärzte raten von raffiniertem Zucker ab. So rät beispielsweise der Ernährungs-Doc Jörn Klasen auf dem NDR einer unter Blasenentzündung leidenden Patientin dazu, neben Weizen und Schweinefleisch auch komplett auf Zucker zu verzichten. Das Gesundheitsportal Zentrum der Gesundheit macht Industrienahrung als Grund für Übergewicht und Entzündungen aus.
„Zucker ist die neue Zigarette“
Wie steil der Abstieg des Zuckers ist, beobachtet auch Stefan Schraps, Vorstand der Agentur Faktor 3: „Zucker ist die neue Zigarette. Einst beworben und geliebt, inzwischen global verpönt – diesen Abstieg in der öffentlichen Wahrnehmung erlebt das weiße Kristall gerade. Überall auf der Welt machen wissenschaftliche Untersuchungen den Zucker für übergewichtige Kinder und die Zunahme von Diabetes verantwortlich.“ Gleichzeitig würden diese Informationen auf eine immer aktivere Influencer-Sphäre treffen, die durch die Fitness-, Ernährungs- oder Lifestyle-Brille das richtige (gute) Essen zur Ersatzreligion erkoren habe. „In dieser Atmosphäre ist in der jungen Zielgruppe ein wahrer Anti-Zucker-Hype entstanden. Getreu dem Motto: Weniger i(s)st mehr. Zucker rieselt so langsam in das Bewusstsein auch breiterer gesellschaftlicher Schichten. Und die Unternehmen reagieren: mit neuen Produkten und Verfahren und dem Einstieg in einen ernst gemeinten Konsumenten-Dialog“, so Schraps.
Kellogg und Rewe auf dem Zuckerfrei-Vormarsch
Beispiele für die Reaktionen aus der Industrie finden sich momentan zuhauf. Zum Beispiel von Kellogg. Der Müsli-Hersteller launchte erst kürzlich mit seiner neue Marke W. K. Kellogg Müsli-Varianten, die „zum Wunsch der Verbraucher und damit zu aktuellen Foodtrends passen“. So gibt es die neuen Produkte in den drei Kategorien „Bio“, „Ohne Zuckerzusatz“ und „Superfood“. Neben der neuen Marke reduziert Kellogg auch im Bestandsortiment den Zucker- und Salzgehalt der Produkte. So wurde der Zuckeranteil bei der Sorte „Choco Krispies“ um 43 Prozent gesenkt – ohne Zugabe künstlicher Süßstoffe.
Und auch am Handel zieht die Zuckerfrei-Welle nicht spurlos vorbei. Rewe zum Beispiel verschreibt sich auf der extra aufgesetzten Website wenigerzucker.rewe.de voll und ganz der Zuckerreduktion in Produkten seiner Eigenmarken. Auf der Seite heißt es: „Als verantwortungsbewusster Lebensmittelhändler unterstützt dich Rewe dabei, Zucker Schritt für Schritt im Alltag zu reduzieren – ohne auf Genuss zu verzichten.“
Doch sollten Industrie und Handel tatsächlich auf mehr zuckerfreie Produkte setzen? Wie sinnvoll ist der Verzicht? Dass man die Entwicklung zumindest beobachten sollte, davon ist Lukas Dudek, Geschäftsführer on der Markenagentur für Food & Beverage Taste, überzeugt: „Zucker ist wortwörtlich in aller Munde und entwickelt sich nach Skandinavien und Südamerika auch in Deutschland zusehends – warum auch immer – zum Staatsfeind Nummer Eins. Handel und Industrie müssen sich der Herausforderung stellen und langfristige Strategien entwickeln, um diesem Trend und möglichen staatlichen Restriktionen standzuhalten. Vertrauen schaffen, Transparenz beweisen – das ist hier extrem wichtig.“
Antworten auf Fragen nach der Glaubwürdigkeit des Zuckerboykotts, oder danach, ob die Produkte tatsächlich halten, was sie versprechen , finden Sie morgen in einem exklusiven Interview mit Foodwatch.