„Generation Rücksitz“ nennt Marktforscher Markus Küppers scherzhaft die Alterskohorte seiner Kinder. Sohn und Tochter sind 9 und 11 Jahre alt und somit exemplarisch für die Gen Alpha. Wohl jede*r kennt die Situation, wenn Kids im Auto von der Rückbank aus ihre Bestellungen aufgeben und die Erwachsenen von vorne diensteifrig Getränke, Kekse und Obst oder wahlweise Tablets und Smartphones anreichen. Doch Scherz beiseite, denn Markus Küppers, Managing Partner des Kölner MaFo-Instituts September, sagt auch: Die Gen Alpha hat es in Deutschland bequemer als jede Generation vor ihr, unbekümmerter ist ihre Kindheit deshalb nicht. Das liegt daran, dass die Kinder in ihren jungen Jahren schon krisenerprobt sind: Sie haben die Pandemie miterlebt. Außerdem bewegen sie sich mehr denn je in einer Onlinewelt, die harmlos aussieht, aber bekanntlich nicht harmlos ist. Und sie kennen das Wort „Stress“.
„Kinder leben im Kokon der Familie“
Familie und Freundschaft stehen bei Kindern in Deutschland seit jeher an erster Stelle. Das ergab schon der von Unicef und Geolino 2014 erhobene „Kinderwertemonitor“. Und auch wenn das Jahr 2014 aus Kindersicht eine Steinzeit lang her ist, dürfte sich an dieser Priorisierung nichts geändert haben. Allerdings: Viele Forscher mögen bei der Altersgruppe der unter 12-Jährigen nicht von Werten sprechen.
Ein differenziertes Werteverständnis, erklärt Axel Dammler, Geschäftsführer des Marktforschungsinstituts Iconkids & Youth in München, bildet sich erst ab einem Alter von 11, 12 Jahren. Ab diesem Alter und bis zum 22. Lebensjahr entwickelt sich dann ein eigenes Wertekonzept, das darüber entscheidet, welche Einstellungen man für den Rest des Lebens mit sich trägt. „Was in der Kindheit stattfindet, ist responsiv“, so der Marktforscher. Kinder lernen in erster Linie von ihren Eltern, was gewünscht und was verboten ist, lernen die Kategorien „richtig“ und „falsch“. „Werte werden in der Familie aufgesogen und in Sozialisationsinstanzen wie Kindergarten, Schule und Vereinen. Freunde und Peergroups – und damit auch Gruppen wie etwa Fridays for Future – treten erst ab zwölf Jahren in den Vordergrund. Kinder leben im Kokon der Familie“, sagt Axel Dammler. Wer als Marketer auf die Zielgruppe schaue, müsse sich ansehen, was die Eltern ihren Kindern mitgeben wollen.
Der Zeitgeist sickert ein
In der Wertevermittlung an Kinder gibt es seit Jahrzehnten Konstanten, die dafür sorgen, dass das Zusammenleben funktioniert: Die Maximen „nicht lügen“, „nicht schlagen“, „nicht stehlen“ gehören beispielsweise im Gros der Haushalte zum Grundkonsens. Aber auch der Zeitgeist macht sich bemerkbar, und zwar nicht von digitalen Medien getrieben: „Kinder wissen, dass Plastik ‘böse‘ ist“, ist Axel Dammler überzeugt, „sie können aber nicht erklären, warum das so ist. Die Themen Umweltschutz oder Nachhaltigkeit werden aus Kindergarten und Schule in die Familien hineingetragen, wenn die Eltern das nicht schon selbst vorleben.“
Gleiches gilt für die Geschlechterrollen: Kinder, die heute gleichberechtigt von Vater und Mutter erzogen werden, stellen Geschlechtergerechtigkeit nicht mehr infrage. Was ihnen vorgelebt wird, das prägt sie.
Auch wenn Kinder davon sprechen, sie seien gestresst, bräuchten mal einen Tag Pause oder Zeit zu entspannen, dann handelt es sich um Vokabular ihrer Eltern. Um mal ein Klischee zu bemühen: Hat sich früher der Vater nach der Arbeit wortlos mit dem Feierabendbier vor den Fernseher gehockt, artikulieren heute Eltern ihren Alltagsdruck. „Wir haben gelernt, alles zu verbalisieren, was uns beschäftigt. Und dieses ständige Verbalisieren führt dazu, dass die Kinder dieses Vokabular aufnehmen. Es gibt die berühmte These: Wenn Gedanken Worte formen, dann formen Worte auch Gedanken. Und das ist hier der Fall“, erläutert Markus Küppers.
Weil die Elterngeneration der Gen Alpha bereits mit digitalen Medien aufgewachsen ist, lebt sie die Nutzung solcher Medien völlig anders vor als noch ihre eigenen Eltern. Und so sind zum Beispiel Social Media für die Kinder schlicht Standard.
Auch der Umgang mit Kindern aus Familien mit Migrationsgeschichte ist Standard, und das ist nicht etwa einer Kindern gern – und fälschlicherweise – zugeschriebenen Toleranz geschuldet. „Kinder sind nicht toleranter. Kinder sind tolerant gegenüber dem, was sie als normal empfinden“, resümiert Axel Dammler. Bei den unter 10-Jährigen liegt der Anteil der Menschen mit Migrationsgeschichte heute bei 40,2 Prozent. Es ist für Kinder also selbstverständlich, Freundinnen und Freunde zu haben, deren Eltern oder Großeltern nicht in Deutschland geboren sind. Die Gen Alpha, sagt Markus Küppers, habe einen hohen Anspruch an soziale Gerechtigkeit und die Erwartungshaltung, dass jede*r unabhängig von Hautfarbe oder Geschlecht alles erreichen kann und erreichen sollte: „Botschaften wie ‘Live your dreams’ sind zum Beispiel durch zahllose Kindergeschichten einmassiert worden. Auch Social Media sind voll von solchen Memes.“
Gut zwei Jahre Corona-Auf-und-Ab dürfte für die unter-12-Jährigen eine der prägendsten Erfahrungen ihres bisherigen Lebens sein. Die Fixierung auf Eltern und Familie hat sich während dieser Zeit noch verstärkt: Laut einer Studie der Uni Leipzig hatten mehr als ein Drittel der Schüler*innen während des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 gar keinen oder nur sehr selten Kontakt zu Lehrkräften – „deshalb mussten die Elternhäuser einiges abfangen“, so die Wissenschaftler.
Das Leben ist für die Kinder aber auch nach dem Wegfall der Corona-Beschränkungen nicht unbedingt einfacher. „The Pressure is still on. Der Alltag der Kids wird durch Lockerungen immer voller“, heißt es in einer Studie von September über die Auswirkungen der Lockdowns auf die Gen Alpha.
Die Kinder versuchen jetzt mit aller Macht, verlorene Zeit wettzumachen. Das Marktforschungsinstitut spricht vom Social-, Hobby- und Outdoor-Boost „im echten Leben“. Demnach treffen sich Kinder derzeit wieder so oft es geht miteinander, nehmen mit neuer Leidenschaft ihre alten Offline-Hobbys wieder auf und sind viel draußen.
Die Forscher folgern: Im Lockdown haben sich individuelle Interessen-Inseln bei den Kindern deutlich intensiviert. Für Markenverantwortliche heißt das: Inhalte müssen diese Interessen-Inseln der Kinder bedienen, um relevant zu sein.
Auch wenn Kinder nach Offline-Erlebnissen suchen, ist die digitale Welt ein fester Bestandteil ihres Lebens. In ihr sind die Kinder quasi 24/7 miteinander verbunden. Während der Pandemie war sie ihr Tor zur Welt – zur Schule und zu ihren Freund*innen, zu ihren Großeltern, zu Zerstreuung und zu Wissen. Das bleibt. Corona habe die Kinder zu kleinen Media-Mastern gemacht, sie seien aus dem Lockdown in ihrem Mediennutzungsverhalten gestärkt hervorgegangen und hätten ihren Medienalltag im Griff, heißt es in der Studie. Sätze von einem befragten kleinen Mädchen, wie „Ich bin auf jeden Fall disziplinierter im Medienkonsum als meine Mutter, die die ganze Zeit am Handy hängt“, zeugen von einer erstaunlichen Souveränität.
Diese Souveränität erstreckt sich allerdings nicht auf alle Gebiete: „Studien zeigen, dass die praktische Intelligenz der Kinder von Generation zu Generation immer niedriger wird. Auf der anderen Seite ist es erstaunlich zu sehen, wie leichtfüßig die Kids sich in der Sphäre des Internets und der Social Media bewegen, wie scheinbar einfach sie sich kompliziertere Sachen aneignen und wie prima sie ignorieren können, was ihnen nicht passt“, sagt Markus Küppers. Er macht dafür die oben genannte Rücksitz-Mentalität der Eltern verantwortlich – je mehr Kindern abgenommen wird, desto weniger stehen sie im „wahren“ Leben. In puncto sozialer Verbundenheit macht ihnen dafür niemand etwas vor.
Diversität ist für sie ebenso selbstverständlich wie der Klimawandel, der Umgang mit digitaler Technik so üblich wie Menschen, die Masken tragen, die Fürsorglichkeit ihrer Eltern für viele von ihnen so normal wie ein Aufwachsen mit etlichen Annehmlichkeiten. Die Gen Alpha hat viel drauf – und einiges zu schultern.
Dieser Artikel erschien zuerst in der April-Printausgabe der absatzwirtschaft.