Von Christian Wiens
Später als andere Branchen erreicht die Digitalisierung die Versicherungsindustrie. Der Druck kommt dabei insbesondere von den Kunden selbst: Sie erwarten eine konsequent digitale Versicherungserfahrung – angefangen vom Vertragsabschluss über die Beratung bis zur Meldung und Abwicklung von Schadensfällen.
Die etablierten Versicherungsunternehmen wissen um diese Kundenerwartungen – doch eine konsequente Umsetzung lässt bislang auf sich warten. Noch immer sind die meisten Prozesse papierbasiert; vertragliche Änderungen bedürfen der Schriftform; viele Mitarbeiter sind einen Großteil ihrer Arbeitszeit mit trivialen Copy-Paste-Aufgaben befasst. Das ist zeitintensiv und bindet Ressourcen. Ständig wiederkehrende Arbeitsschritte sind außerdem fehleranfälliger, da die Mitarbeiter mit der Zeit ermüden und weniger konzentriert arbeiten.
Enormes Potenzial für Automatisierung
Gleichzeitig ist das Potenzial für den Einsatz neuer Technologien enorm: Viele Kundenanfragen, Schadensmeldungen oder Datenanalysen ließen sich theoretisch standardisieren und automatisieren – ideale Voraussetzungen, um intelligente Maschinen einzusetzen.
Die Strategieberatung Bain & Company spricht in einer Studie aus dem Jahr 2017 von einer 18-Milliarden-Chance – allein für deutsche Sachversicherer. Die konsequente Automatisierung manueller Prozesse und der Einsatz neuer Technologien könnte demnach die Beitragseinnahmen um knapp 25 Prozent steigern und die Kosten gleichzeitig um knapp 30 Prozent senken. Die größten Einsparungen sind nach Einschätzung der Experten in der Schadensregulierung und bei den Abschlusskosten möglich.
Den veränderten Kundenerwartungen gerecht zu werden und das Potenzial der Digitalisierung voll auszuschöpfen, ist für die meisten etablierten Versicherer eine Mammutaufgabe. Dabei mangelt es ihnen nicht am Willen. Doch die Hürden sind groß.
Flickenteppich inkompatibler Hard- und Software
Einerseits trennte das Versicherungsaufsichtsgesetz die Lebens-, Kranken- und Sachversicherungssparte in eigenständige rechtliche Einheiten, die oft mit unterschiedlichen IT-Systemen arbeiten. Andererseits führte der Kosten- und Wettbewerbsdruck in den vergangenen Jahren dazu, dass kleinere Versicherungsunternehmen von den „Großen“ aufgekauft wurden, ohne die IT-Infrastruktur zu integrieren. Das Ergebnis ist ein Flickenteppich inkompatibler Hardware und Software, in dem Kundendaten innerhalb eines Konzerns oder über mehrere Abteilungen oder Bereiche hinweg nicht ausgetauscht werden können. Eine digitale Kundenreise lässt sich unter diesen Voraussetzungen nur schwer verwirklichen.
Hinzu kommt, dass die meisten Versicherer mit Maklern arbeiten, die wiederum die Lebenssituation ihrer Kunden deutlich besser kennen als die Versicherer selbst. Der Kfz-Versicherer weiß, was für ein Auto der Kunde besitzt, der Haftpflicht-Versicherer kennt immerhin die familiären Verhältnisse, der Hausratversicherer kann auf das Einkommen und Vermögen des Kunden rückschließen. Doch selbst Vollversicherer verfügen nicht über eine Infrastruktur, die es ihnen erlaubt, Kundendaten über die gesamte Vertragslaufzeit und alle Schnittstellen zu bündeln. Insbesondere die Frage, woher die Kunden kommen, bleibt ihnen durch die Zusammenarbeit mit Maklern unbeantwortet.
Schnelligkeit spricht für Start-ups
Insurtechs dagegen haben hier zwei entscheidende Vorteile: Sie bauen ihre Versicherungslösungen ohne Altlasten, sozusagen „auf der grünen Wiese“. Veraltete IT-Infrastruktur, skeptische Mitarbeiter, die nach dem Motto „Das haben wir immer schon so gemacht“ agieren – in Start-ups ist das ein Fremdwort. Agilität ist hier das Gebot der Stunde, und während etablierte Versicherer Monate – wenn nicht Jahre – brauchen, um neue Software einzuführen, mangelt es in Insurtechs eher an Reflexion denn an der Umsetzung. Der teilweise etwas naive Aktivismus der „Jungen“ mag bei etablierten Versicherern Kopfschütteln hervorrufen – doch klar ist auch: ihre Schnelligkeit ist eine wichtige Stärke.
So arbeiten Unternehmen wie Lemonade in den USA, Bought By Many in Großbritannien oder Getsafe in Deutschland intensiv an Plattformen, mit denen sie Kundendaten strukturiert erfassen und analysieren können. Damit legen sie nicht nur die Grundlage, um selbstlernende Algorithmen mit klassifizierten Trainingsdaten füttern zu können, sondern schaffen es auch, die Versicherungserfahrung einfach, transparent und digital zu machen.
Umgang mit Daten und Technologie entscheidet
Bildlich gesprochen tritt hier ein wendiges Segelschiff gegen einen riesigen Dampfer an. Der Dampfer hat eine erfahrene Crew, eingespielte Prozesse und einen ehrwürdigen Kapitän, der sich in vielen Jahren sein Können bewiesen hat – doch das Segelboot gibt das Tempo und den Kurs vor. Der Dampfer kann einem Sturm auf hoher See besser trotzen, doch solange das Meer ruhig bleibt, wird er trotz seiner viel höheren Schlagkraft sehr viel später das Ziel erreichen als das wendige Segelboot. Und: Das Segelboot läuft aufgrund seiner präziseren Daten womöglich erst gar nicht in die Gefahr eines Sturms.
Es wird spannend bleiben, wer künftig das Rennen macht: Dampfer oder Segelboot. Der Umgang mit Daten und Technologie wird dabei entscheidend sein. Denn nur wer seine internen Prozesse effizienter macht und gleichzeitig die Bedürfnisse der Kunden erfüllt, wird sich durchsetzen können.