Warum Social-Media-Shitstorms für Bahn, Nestlé und Co. eher eine Chance darstellen

Jack Wolfskin, Deutsche Bahn, Nestlé, Ryan Air, Walmart und soeben ING-Diba – die Liste der großen Social-Media-Skandale ließe sich endlos fortsetzen. Und was zeigt diese Liste? Dass die Online-Marketer ganz hoch oben im Elfenbeinturm sitzen. Denn häufig interessieren die so genannten Shitstorms die breite Bevölkerung kaum. Und noch besser: Bei geschickter Vorgehensweise lassen sich Kritiker zu Fans machen oder mobilisieren treue Fürsprecher.

Von Frank Puscher

Dr. Alexander Decker erzählt: „Wir haben das sehr genau gemessen, auch die Entwicklung des Markenwerts. Das hat man nicht bemerkt.“ Decker ist der Experte für Kundenkommunikation beim weltgrößten Lebensmittelkonzern Nestlé und er spricht vom vermutlich schlimmsten Konflikt zwischen Aktivisten und Unternehmen, den das deutschsprachige Web gesehen hat. Im Deutsch der Online-Marketer ist das Wort dafür „Shitstorm“. Anführer des Protests war Greenpeace. Ziel war die Facebookseite von Schokoriegel Kitkat und Gegenstand war die Verwendung von Palmöl zu Herstellung ebendieses Schokoriegels. Ergebnis der Kampagne war die Abschaltung der Facebook-Seite mit damals 750 000 Fans. Und heute? Heute hat Kitkat fünf Millionen Fans.

Glaubt man Dr. Alexander Decker, dann hatte das ganze Tam-Tam keinen Effekt auf die Verkäufe und auch keinen für die Marke. Einem Nestlé-Mann bei diesem Thema zu glauben, wäre freilich ein wenig blauäugig. Wer mit ihm spricht, wundert sich allerdings schon, wie offensiv der Mann mit dem immerhin zwei Jahre zurück liegenden „Skandälchen“ umgeht. In seinen Vorträgen zeigt er martialische Greenpeace-Motive aus der Kampagne. Er spricht von großen Fehlern und davon, dass Nestlé damit auf Dauer in den Lehrbüchern zu Social Media verewigt sei. Vielleicht ist Decker ein Meister der Ciceronischen Argumentation, die darauf abzielt, dem Gegner frühzeitig allen Wind aus den Segeln zu nehmen, in dem man sich selbst anklagt. Vielleicht ist Decker aber einfach nur ehrlich.

Und so unwahrscheinlich ist Letzteres nicht. Während sich die überschaubar kleine Gruppe der professionellen Onliner darin ergeht, mangelnde Fachkenntnisse der Beteiligten auf Unternehmensseite anzuprangern, den baldigen Untergang des betroffenen Unternehmens prophezeit und mit diesem Angstmarketing die eigene Dienstleistung versucht zu verkaufen, weiß auf der Straße vielleicht einer von fünfzig, was der Inhalt der markerschütternden Skandale ist. „Wenn ich meine Studenten befrage, weiß einer von zehn, worum es in den Fällen geht“, bestätigt Markenexperte Karsten Kilian. Und darüber hinaus wäre noch zu analysieren, wie viele Wissende sich von diesem Wissen in ihrer Kaufentscheidung beeinflussen lassen.

Vielleicht ist der Fall „Deutsche Bahn und das Chefticket“ gut geeignet, die merkwürdigen Mechanismen dieser Szene zu illustrieren. Am 25. Oktober 2010 startete die Bahn den Verkauf von Deutschland-Tickets für alle Verkehrsmittel exklusiv auf Facebook. In 14 Tagen vertickten die Frankfurter 140 000 Tickets à 25 Euro und generierten 50 000 Fans, mit denen allerdings nicht weiter kommuniziert wurde. Der Tenor in der Analyse: gute Aktion für die Kunden, gute Aktion für den Vertrieb, nur die Social Media Experten ermittelten einen riesigen Fehlschlag, der bis heute als abschreckendes Beispiel zitiert wird. Dabei war die Aktion zumindest in puncto Viralität ein voller Erfolg. Dazu trug das spannende Angebot ebenso bei (Relevanz) wie das polarisierende Video, das einen Hahnenkampf andeutet (Involvement). Die Bahn hätte mehr draus machen können, hat aber eine Menge daraus gemacht. Das Chefticket war eben nicht die Eröffnung eines neuen Kommunikationskanals, es war eine Kampagne.

Und heute? Die Bahn betreibt zehn unterschiedliche Facebookseiten mit verschiedenen Themen. Vom Car-Sharing „Flinkster“ bis zum eigenen Recruiting-Kanal. Damit ist die Bahn heute bereits besser aufgestellt, als viele andere Großunternehmen, denn durch die Segmentierung kann die Kommunikation auf Themen zugespitzt und die Kanäle besser instrumentalisiert und gesteuert werden. Ein einzelner Kanal als „Schmelztiegel“ aller Interessen kann das nicht.

Auf ihrem Hauptkundenkanal hat die Bahn 75 000 Fans. Dort gibt es Öffnungszeiten bis 22 Uhr, die dem gängigen im Support-Bereich entsprechen. Die Bahn warnt Nutzer davor, Privates von sich zu geben. Das ist vorbildlich. Und die Reaktionsgeschwindigkeit bei aktuellen Anfragen ist hervorragend (eben waren es handgestoppte sechs Minuten). Und noch besser: Wie anhand eines Falls mit Opfern des Costa-Concordia-Unglücks zu sehen ist, hat die Bahn jede Menge echte Fans, die auch bereit sind, für den Konzern Partei zu ergreifen.

Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch Nestlé. Aus dem früheren Greenpeace-Opfer wurde ein Unternehmen, das Bewertungen und Diskussionen zu 1 400 Produkten zulässt und erst im Nachgang moderiert. Die Plattform selbst ist weniger spektakulär als die Tatsache, dass es sie gibt. Der Greenpeace-Skandal hat den Nährboden bereitet, auf dem das Social Media Team seine Saat ausbringt. Und zu allem Überfluss durfte Alexander Decker alle Skandalfälle der letzten Jahre erneut im eigenen Blog kommentieren. Bestens vorbereitet durch seine Unternehmenssprecher.

Auch Marco Nussbaum sieht wenig Negatives an öffentlicher Kritik oder aufkeimenden Shitstorms. Bei berechtigter Kritik demonstriert der Bremer Hotelier öffentliches Kümmern, bei Missverständnissen nutzt er den jeweiligen Fall, um künftige Kunden besser aufzuklären, beispielsweise über die Frage, warum es keine kostenlosen Parkplätze gibt.

Ausgerechnet Sascha Lobo, der zu den schnellsten Kritikern bei Social Media Fehlern gehört, hat in seiner hörenswerten Rede auf der Re:publica vor zwei Jahren nicht nur den Begriff Shitstorm salonfähig gemacht, sondern auch eine erstaunliche Theorie entwickelt: „Der Shitstorm kann unter Umständen im Sinne der kritisierten Instanz sein“. Lobo meint, dass ein Onlineangriff, der sich von seiner ursprünglich grundsätzlichen Kritik löst, dazu führt, dass Befürworter eines Unternehmens oder einfach nur Gerechtigkeitsfanatiker auf den Plan treten, die das angegriffene Unternehmen verteidigen. Etwas später kommt der Mann mit dem Irokesenschnitt auf die Idee, man könnte doch auf Dauer ein paar professionelle Schimpfer beschäftigen, die im Sinne eines Teufelsanwalts den ganzen Tag nichts anderes machen, als ungerechtfertigte Kritik gegen eine Firma zu veröffentlichen.

Lobo hat recht. Nussbaum hat recht, Decker hat recht und die Bahn auch. Merke:

  • Nicht jeder scheinbare Shitstorm ist wirklich einer.
  • Ein echter Shitstorm öffnet das Unternehmen für Veränderungen.
  • Ein ungerechter Shitstorm macht die Marke stärker.
  • Trolle sind wichtige öffentliche Sparingspartner, man sollte den Konflikt mit ihnen pflegen.
  • Kein digitaler Shitstorm hat in der Realwelt bislang mehr verursacht, als müdes Schulterzucken, abgesehen von Themen, die ohnehin im öffentlichen Interesse verankert sind.
  • Shitstorms werden vor allem von den Medienvertretern wahrgenommen und eignen sich perfekt für die Vervielfachung der medialen Wirksamkeit, wie das derzeit die ING-Diba genießen darf dank aufopferungsvollem zutun der Veganer und Vegetarier. YouTube-Nutzer B20C0 meint: Wenn sich dieser Skandal ausbreitet, wird die ING-Diba garantiert zur größten Bank der Welt, weil alle Fleischfresser ihr Konto dort eröffnen. Die Bank für Menschen ohne Anämie. Als Werbemanager würd ich das bringen 😀

Sascha Lobo über den Shitstorm
www.youtube.com

Rückblickendes Interview zum Chefticket
www.allfacebook.de/die-bahn

Das Interview, das Frank Puscher mit dem Nestlé-Kundenkommunikationsexperten Dr. Alexander Decker führte, lesen Sie morgen an dieser Stelle.