Von Jan Dirk Kemming, Professor für Medienmanagement und Kommunikation an der Hochschule Fresenius
Das Lieferkettengesetz ist erklärter politischer Wille der scheidenden Bundeskanzlerin und wurde maßgeblich durch die Ministerien für Arbeit und Soziales von BM Hubertus Heil (SPD) sowie für Entwicklung und wirtschaftliche Zusammenarbeit von BM Gerd Müller (CSU) vorangetrieben. Ende Mai 2021 wurde der Gesetzentwurf im Kabinett verabschiedet und in den Bundestag eingebracht, trotz erheblichen Widerständen aus Teilen der Unternehmerschaft; insbesondere die zivilrechtlichen Haftungsaspekte werden von der Industrielobby stark kritisiert.
Zusätzlich zur deutschen Initiative dürfte auf Sicht auch an einer europäisch regulierten Lieferkettenverantwortung kein Weg mehr vorbeiführen. Das EU-Parlament hat im März 2021 eine Direktive zu „Mandatory Human Rights, Environmental and Good Governance Due Diligence“ verabschiedet, die nun von der Europäischen Kommission in ein Gesetzesvorhaben gegossen wird. Experten rechnen mit einem verbindlichen deutschen und europäischen Rahmen ab 2023. Die Lieferkette ist aber auch aufgrund weiterer Stakeholder-Nachfrage schon längst Markenaufgabe.
Hohe Nachfrage nach Transparenz und Verantwortung
Spätestens seit der Katastrophe in Rana Plaza 2013, bei der über 1000 Menschen beim Zusammensturz einer Fabrik in Bangladesch ums Leben gekommen sind, ist das Thema in der breiten Öffentlichkeit angekommen. Unternehmen werden für die Erfüllung ihrer Sorgfaltspflichten zur Verantwortung gezogen. Eine transparente Lieferkette wird auch unabhängig von Regulation zum Bestandteil guter Markenführung und verantwortungsvoller Markenversprechen.
Nimmt man die Konsumenten-Nachfrage zum Maßstab, so sind die Signale eindeutig. Laut einer Studie von Infratest Dimap aus dem Hebst 2020 sprechen sich 75 Prozent der repräsentativ befragten Bundesbürger für ein Lieferkettengesetz aus.
Ausweislich des im Frühjahr 2021 veröffentlichten Ernährungsreports des Bundesministeriums für Landwirtschaft und Ernährung wünschen sich die deutschen Lebensmittelkonsumenten zu je 84 Prozent Angaben zu umweltverträglichen und fairen Produktionsbedingungen auf den Verpackungen.
Konsumenten sind aktive Multiplikatoren
Die Konsumenten sind auch aktive Multiplikatoren zum Thema Unternehmensverantwortung. 47 Prozent (43 Prozent der Deutschen) in einer globalen Studie 2016 von dem Marktforschungsunternehmen KRC befragten Konsumenten diskutieren online, wie gut oder gesund Produkte von Unternehmen sind.
Und konsequenterweise haben Interesse und Meinungsbildung auch einen Einfluss auf das Kaufverhalten. Eine weitere Studie von KRC aus dem Jahr 2018 belegt, dass Konsum nicht nur zu Sanktionszwecken (Boykott), sondern auch zu Gratifikationszwecken („Buycott“) für Handlungen von Unternehmen eingesetzt wird. 60 Prozent der Konsumenten gaben an, bereits eine positive oder negative Aktion als Reaktion auf eine ethisch zu beurteilende Handlung eines Unternehmens/einer Marke getätigt zu haben. Von dieser Gruppe haben 90 Prozent schon mindestens einmal eine Marke boykottiert, und 65 Prozent der Verbraucher haben eine Marke aktiv mit Konsum unterstützt.
Mitarbeiter fragen nach unternehmerischer Verantwortung
Nicht nur Konsumenten, sondern auch potenzielle Mitarbeiter fragen nach unternehmerischer Gesamtverantwortung. Wie eine 2013 veröffentlichte globale Studie von Bain & Company zeigte, waren beispielsweise schon damals 15 Prozent der Angestellten in den Industrie- und Schwellenländern bereit, auf ein höheres Gehalt zu verzichten, um für ein „grünes Unternehmen“ zu arbeiten.
Sowohl die konsumentenbezogene Markenführung als auch das Employer Branding generieren eine signifikante Nachfrage nach Lieferkettentransparenz. Und dies gilt zunehmend auch für Einkäufer und Investoren.
Begrenztes Transparenzangebot
Diese Nachfrage trifft derzeit allerdings auf ein begrenztes Angebot. In einem Fokusbericht der jährlichen „Chief Procurement Officer“-Studie von Deloitte hatten 2019 nur vier Prozent der befragten Unternehmen in der EMEA-Region volle Transparenz über die gesamte Lieferkette. Elf Prozent gaben an, so gut wie keine Sichtbarkeit über die direkten Lieferanten hinaus zu haben.
Die globalen Lieferkettenprobleme während der Covid-19-Pandemie haben deutlich gezeigt, dass eine bessere Steuerbarkeit der Lieferkette ein entscheidender Baustein für den Unternehmenserfolg darstellen.
Auch das hat die Studie von Deloitte 2019 belegt: Erfolgreiche Unternehmen haben zweieinhalb Mal häufiger als ihre Mitbewerber eine vollständige Lieferkettentransparenz. Die Ergebnisse zeigen, dass – zusätzlich zu den genannten Reporting- und Risikoaspekten – eine größere Transparenz der Lieferkette die Innovationsfähigkeit erhöht und die Gesamtkosten für beschaffte Waren und Dienstleistungen reduziert.
In einem ganzheitlichen Markenmodell, das die gesamte Stakeholder-Landschaft im Blick hat, wird die verantwortungsvolle und in partnerschaftlichem Dialog gestaltete Lieferkette zum Aushängeschild.
Rollenmodelle und Marken-Pioniere
Bereits seit 2003 dokumentiert zum Beispiel Nespresso in seinem Programm „The Positive Cup“ das nachhaltige Beschaffungskonzept für den Kaffee. Die Marke steht dabei stellvertretend für das klare Bekenntnis der Konzern-Mutter Nestlé – für das Transparenz-Engagement ist das Unternehmen bereits 2016 als Global Leader durch die gemeinnützige Organisation CDP ausgezeichnet worden. Auch Ritter Sport macht eine nachvollziehbare Kakao-Lieferkette seit Jahren explizit zur Markenaufgabe und stellt Nachweise zur Produktherkunft in das Zentrum der Markenkommunikation.
BMW hat Anfang 2020 angekündigt, die weltweiten Lieferketten von Rohstoffen und Bauteilen künftig mit einer Blockchain-Lösung transparent und fälschungssicher zu dokumentieren. Digitale Innovationen wie Blockchain-Technologien sind bei Pionierunternehmen ein wichtiger Bestandteil; auch Nestlé nutzt beispielsweise die IBM Food Trust Technologie und liefert gemeinsam mit vertrauenswürdigen Drittparteien, wie der Rain Forest Alliance, unabhängige Daten.
Neben Kritik kommt entsprechend auch viel Zuspruch aus dem Unternehmenslager für ein Lieferkettengesetz, auch mit dem Ziel gleicher Wettbewerbsbedingungen (level playing field). Neben Nestlé und Ritter Sport haben sich in Deutschland unter anderem Armedangels, Vaude, Tchibo und Rewe in einem öffentlichen Bekenntnis gemeinsam mit insgesamt 42 Unternehmen zu der Gesetzesinitiative bekannt. Auch Aldi hat sich im Herbst 2020 ungewohnt deutlich in dieser Frage politisch positioniert und eine gesetzliche Regelung für die Lieferkettenverantwortung auf europäischer Ebene eingefordert.
Die Beispiele zeigen: Das Thema Lieferkette gewinnt kontinuierlich an Relevanz für Unternehmen. Nicht (nur) wegen politischer Initiativen. Sondern vor allem aufgrund entsprechender Nachfrage von Konsumenten und weiteren zentralen Stakeholdern. Und damit ist die Lieferkette auch zentrale Markenaufgabe.
Der Artikel erschien zuerst in der Juli-Printausgabe der absatzwirtschaft.