Warum die Agenturwelt ein neues Sicherheitsverständnis braucht 

Gerade in Zeitenwenden lohnt es sich, bequeme, lieb gewonnene Schubladen aufzumachen und den Inhalt abzustauben. Zum Beispiel die Frage, wie wir zu denen stehen, die der Ukraine helfen und unsere eigene Sicherheit gewährleisten, sprich: Rüstungskonzerne.
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Gerald Hensel ist Managing Partner der Marketingberatung Superspring. (© Saskia Uppenkamp/ Montage: Olaf Heß)

„Rosaland“ – so hieß der fiktive Feind, gegen den wir 1995 in der Pfalz unseren Abschnitt halten sollten. Ich war Wehrdienstleistender, fror drei Tage lang erbärmlich und fragte mich, warum ich Teil dieser antiquierten Post-Kalte-Kriegs-Bundeswehr war. 

Ich hatte Respekt vor meinen Freunden im Zivildienst, aber ich wollte etwas anderes tun. Auch heute glaube ich, dass unsere demokratische Ordnung im Ernstfall verteidigt werden muss. Doch die Bundeswehr der Mittneunziger wirkte wie ein rostender Koloss ohne Ziel: bürokratisch, fehlfinanziert, sinnfrei. Vor allem, wenn man Teil davon war. 

Während ich Rosaland aufzuhalten versuchte, bewegte sich auch der Rest des Landes in eine neue Ära. Fünf Jahre nach der Wiedervereinigung ging es um alles, nur nicht um Sicherheitspolitik. Die Love Parade tanzte mit einem neuen Vibe in eine hedonistische Zukunft, die die Neunziger versprachen. Die simple Wahrheit im Technobeat: Ab jetzt ist Frieden für immer. 

Rosaland ist abgebrannt

Fast ein halbes Leben liegt zwischen damals und heute. Der brutale russische Angriffskrieg gegen die Ukraine beweist uns seit 2022 wieder, dass Sicherheit und Frieden nicht selbstverständlich sind. Inzwischen habe ich, wie viele andere, eine Karriere in der Agentur- und Beratungswelt gemacht, wo Fragen rund um Moral und Purpose immer wieder auftauchen. Die Frage „Für wen wollen wir arbeiten?“ diskutiert jede Agentur früher oder später. 

Bundeswehr und Rüstungskonzerne standen bei vielen Marketingdienstleistern reflexhaft auf der No-Go-Liste ganz oben. Sie sind seit Jahrzehnten die sprichwörtlichen schwarzen Schafe, weil ja bekanntlich niemand „für Waffen“ arbeiten will. Aber warum sind wir uns eigentlich so wenig bewusst, dass unsere eigene Sicherheit mit einer funktionierenden Armee und einem Rüstungssektor unmittelbar zusammenhängt? 

Ethik braucht Realitäts-Updates 

Klar, wir wollen alle auf der richtigen Seite der Geschichte stehen. Aber leider ist die Welt nicht schwarz und weiß – sie besteht aus vielen Schattierungen. Es geht dabei nicht mehr um weit entfernte Kriege. Unsere eigene Sicherheit steht 2024 zur Disposition. Wer die ablehnt, die diese Sicherheit garantieren, braucht vielleicht ein Realitäts-Update des eigenen Wertesystems.  

Ich bin mir der Komplexität des Themas bewusst und würde im Einzelfall entscheiden. Aber die Zeitenwende verlangt ein neues Verhältnis zu denen, die unsere Gesellschaft verteidigen helfen und Sicherheit praktisch schaffen. Ja, die meisten von uns würden gerne in einer Welt ohne Waffen leben. Die meisten lieben ein demokratisches Gemeinwesen. Das, was dazwischen liegt, sind unbequeme Wahrheiten, die man manchmal hinterfragen muss. 

Gerald Hensel ist Managing Partner der Marketingberatung Superspring. Der Kolumnist hat die NGO HateAid mitgegründet und setzt sich seit vielen Jahren aktiv gegen Gewalt und Desinformation im Netz ein.