Es gibt Erklärungen, warum die neuen Werkzeuge zu besserer Effizienz und höherer Aufmerksamkeit führen. Vor allem in einer Welt gelangweilter Verbraucher und dem frustierenden Verfall der Wertschöpfung für Marken. Lange Zeit saß Online-Kommunikation auf der Ersatzbank. Zum Reserve-Spieler verdammt. Die Schatten eines gescheiterten Internet-Hypes Ende der 90er und die mühsamen Anfangs-Erfolge im Mobile-Marketing blockierten frisches Denken.
Jetzt scheint der Knoten geplatzt. Unter dem Druck stagnierender Märkte wird das Marketing mutiger. Das Learning der Media-Agenturen und deren zunehmend initiative Rolle zeigt die Kraft der neuen Medien und – so ganz nebenbei – tauchen Zahlen auf, die mit verändertem Konsumenten-Verhalten verblüffen. „Die Jungen treiben die Alten“ könnte man dieses Phänomen nennen. Dahinter verbirgt sich, dass die über 50jährigen die höchsten Zuwachsraten in der Nutzung des Internets und der mobilen Telefonie aufweisen. Wieso denn das? Wer mit den jungen Leuten nicht per SMS oder MMS oder e-mail korrespondiert, bleibt außen vor. Kommunikation findet mit spitzen Fingern auf engen Tasten statt, Handschrift oder Gespräch fällt zurück. Die Quote der Internet-User in der Generation 50plus erreicht fast die Größenordnung von 2/3 der Bevölkerung. Unglaublich. Das Mobil-Telefon ist zum Körperteil geworden – wie einst die Armbanduhr, die jeder an sich trägt.
Der selbstverständliche und alltägliche Umgang mit den neuen Technologien beantwortet gleichzeitig die dringlichen Fragen der Marketing-Experten. Frage 1: Wie kommen wir noch näher an die Menschen heran? Frage 2: Wie können wir messen, wie unsere Botschaften wirken? Und das in einer Zeit, in der sich die Media-Berater als Investitions-Experten neu positionieren. In der sie die Hierarchie der Wirkungs-Ungenauigkeit und nicht etwa die Genauigkeit i den Mittelpunkt der Diskussion stellen. Eine Zeit, in der díe Fragezeichen über die Wirkungskraft der klassischen Medien zunehmen. Und jede Lebensphase einer Marke ihre eigene Vernetzungs-Strategie im Media-Mix erfordert.
Vor diesem Hintergrund rücken viele der bisherigen „Ergänzungs“-Medien ins Zentrum des Interesses. Die Rollenverteilung der Medien wird neu definiert, weil die führenden Marken bei den Kriterien Bekanntheitsgrad, Sympathie und Image-Profil ein ähnlich hohes Niveau ausweisen. Gleichzeitig sagen Verbraucher-Befragungen: bei ähnlichem Wissensstand über Marken trifft der Verbraucher seine Kaufentscheidung erst unmittelbar am Ort des Kaufs oder vor dem endgültigen Kaufakt. Das verschiebt die strategischen Prioritäten. Massen-Kommunikation und Individual-Kommunikation stehen sich kritisch gegenüber. „Return on Investment“ beherrscht die Diskussion. Die neueste Zahl sagt, dass 70 Prozent der Menschen mit hoher Kaufkraft Internet und Mobile Phone intensiv nutzen. Und weil sich diese Menschen gerne individuell ansprechen lassen und auch individualistisch ausgerichtete Produkte und Services lieben, entsteht hier eine Bilderbuch-Zielgruppe. Wohl dem, der sie für sich gewinnt. Ein Vorsprung, den Wettbewerber so schnell nicht wieder aufholen.
Bleibt noch die Frage: Haben die Kreativen in den Agenturen schon begriffen, welche Chance hier liegt? Und vor allem: haben sie schon gelernt, damit perfekt umzugehen? Oder mehr noch: lieben sie dieses Medium? In der englischen Zeitschrift Campaign erschien letzten Monat ein Essay unter der Überschrift „The Rise of the New Creative“. Der Artikel zeigte auf „there is a revolution going on in advertising as the boundaries between specialism blurr. Emerging from the chaos are the new creatives – become one or become obsolete.” Diese gnadenlose Feststellung sagt nichts anderes aus als: Wenn die Creativen nicht schnellstens die neuen Technologien verinnerlichen, praktizieren, creativ umsetzen und lieben lernen, gefährden sie ihren Job.
Noch schieben viele Creativ-Direktoren den Internet-‚Kram’ auf die Schreibtische ihrer Assistenten. Man kann darauf wetten, dass diese Haltung schnellstens verschwindet. Wir stehen vor einem Zeitalter des partizipatorischen Medien-Konsums: Der Konsument macht das Produkt. Mehr noch: Er will es auch machen, um die Sicherheit zu haben, individualistisch und damit anders als sein Nachbar oder Freund zu leben. Die Überschrift heißt: Nicht ich muss zur Marke passen. Die Marke muss zu mir passen. Damit ist der Raum für den Trend zu personifizierten Produkten vorgegeben. Wir steuern auf ein zugegeben etwas teureres „Ich Ich Ich-Marketing“ zu. Mit neuen Spielregeln. Mit neuen creativen Herausforderungen. Insbesondere dann, wenn Player wie Microsoft, Google, e-bay, Yahoo und andere Blue Chips wie angekündigt in die Kommunikationswelt des Internets einsteigen.
Wie antwortete Bill Gates in einem Interview mit der Financial Times auf die Frage, warum er den Internet- und Mobile-Phone Markt verschlafen habe? „Man muss nicht alles selbst erfinden. Man muss warten können, bis andere alle Fehler in einem neuen Markt gemacht haben. Dann steigt man auf einem höheren Niveau ein und weiß, welche Risiken man vor sich hat.“ Für den Rest der Welt bleibt offen, ob das ein Versprechen oder eine Drohung war.
Über den Autor: Bernd M. Michael ist Strategic Advisor bei Grey Global Group