Frau Immenroth, M Science betreibt die Markt- und Medienforschung für die Mediaagenturen der Group M, betreut aber auch eigene Kunden. Welche Veränderungen stellen Sie in der Zielgruppenplanung der Kunden fest?
Karin Immenroth: Die Planung wird immer dynamischer und flexibler. Bis vor einigen Jahren legte man zu Beginn einer Kampagne ziemlich genau fest, wie die Zielgruppen aussehen sollten, und daran änderte sich dann nichts mehr. Heute analysiert man während der Kampagne, was in den digitalen Kanälen passiert, wie sich die Zielgruppen verhalten, und justiert die Aktivitäten kontinuierlich danach.
Wie wirkt sich das auf die Relevanz von Markt-Media-Studien wie Best4planning aus?
Sie stellen noch häufig die Basis der Zielgruppenplanung dar, sind aber nur noch Ausgangspunkt. Marktforschungsdaten haben das Manko, dass Menschen falsche Aussagen über das eigene Verhalten machen, irrtümlich oder bewusst. Die digitalen Kanäle ermöglichen es, das tatsächliche Verhalten zu analysieren. Diese Erkenntnisse fließen zunehmend in die Planung ein. Man stellt dann bisweilen fest, dass man die erwünschten Zielgruppen gar nicht dort antrifft, wo man es erwartet hat.
„Sinus-Segmentierung war vor etwa zehn Jahren ein sehr gefragtes Thema“
Für diese Analyse muss man aber erst einmal Daten haben.
Natürlich. Daher gehen wir für unsere Kunden sehr unterschiedlich vor: Für den Hersteller von Luxuskosmetik, der wenig Interaktion im Netz betreibt, bleiben die tradierten Planungsmethoden mit soziodemografischen Daten wichtig. Wer dagegen einen neuen Film bewerben will, kann mehr Signale auswerten, die er im Netz über Paid, Owned und Earned Media bekommt. Ohne regelmäßige Überprüfung der Effektivität und Effizienz.
Wie wichtig sind die Sinus- und Sigma- Milieus für die Planung?
Sinus-Segmentierung war vor etwa zehn Jahren ein sehr gefragtes Thema, mittlerweile hat die Relevanz aber nachgelassen, weil es ein recht starres System ist. Sinus-Milieus sind vor allem dann interessant, wenn es um Werte und Einstellungen geht. Die Sigma-Milieus werden nach wie vor gern von der Autoindustrie genutzt. Letztlich sind die Milieus eine Glaubensfrage: Einige Kunden schwören nach wie vor darauf, auch weil die Maßnahmen dann leichter mit den Vorjahren vergleichbar sind. Andere dagegen entwickeln lieber eigene Typologien oder Personas oder sie beauftragen uns damit.
Woher beziehen Sie Ihre Kenntnisse über Zielgruppen?
Wir verfügen über ein breites Instrumentarium. Die Group M betreibt unter anderem das Live Panel, das 5,5 Millionen Konsumenten in 30 Ländern umfasst. Es bietet vor allem für internationale Kunden länderübergreifende Daten. Neben der Best4planning setzen wir ständig neue Analysen auf, um ein tieferes Konsumentenverständnis zu entwickeln. Wir verwenden dazu auch die Daten aus Online-Kampagnen, die über die [m]Platform der Group M laufen. Zudem setzen wir auch aggregierte und damit datenschutzkonforme Daten von Kunden ein. Viele Unternehmen wissen gar nicht, über was für einen Datenschatz sie verfügen.
„Joghurt wird immer noch vornehmlich von haushaltsführenden Personen im Alter von 20 bis 49 Jahren gekauft“
Lassen sich Menschen denn überhaupt noch verlässlich bestimmten Milieus, Lifestyle-Typen oder Käufergruppen zuordnen?
Es wird oft behauptet, dass die Gesellschaft immer komplexer und damit das Konsumentenverhalten volatiler wird. Das stimmt aber nicht für alle Branchen. FMCG zum Beispiel sind relativ stabil, Joghurt wird immer noch vornehmlich von haushaltsführenden Personen im Alter von 20 bis 49 Jahren gekauft. In anderen Bereichen dagegen hat man tatsächlich zunehmend mit Streuverlusten zu kämpfen, in der Touristik etwa oder in der Kinowelt. Bei einem Horrorfilm hätte man das Targeting früher auf männliche Zuschauer bis 39 ausgelegt, heute engt man das Publikum damit viel zu sehr ein.
Raten Sie Ihren Kunden, auf Streugewinne zu spekulieren, also Werbung bewusst außerhalb der angestammten Zielgruppen ins Ungewisse zu senden?
Als Mediaagentur beraten wir prinzipiell auf Effizienz, die wir basierend auf Analysen ermitteln und nachweisen. Wir versuchen also Streuverluste weitgehend zu vermeiden. Wenn der Kunde es allerdings ausdrücklich wünscht, entwickeln wir auch dazu eine Planung – hier sehen wir uns aber klar als Berater und würden immer zwei verschiedene Planungen nebeneinanderlegen.
Das Interview ist Teil der Titelgeschichte „Zielgruppenplanung im Umbruch“ der Ausgabe 04/19, die Sie hier bestellen können.