Aus durchschnittlich 68 Facebook-Likes eines Nutzers lässt sich vorhersagen, ob dieser gegebenenfalls die CDU oder die SPD wählt – und das mit einer Treffsicherheit von 85 Prozent. Mit zunehmender Anzahl auswertbarer Datenpunkte und der Verfeinerung der Gewichtsfaktoren im Rahmen von Predictive Analytics können Modelle anhand von zehn Facebook-Likes eine Person besser einschätzen als deren durchschnittlicher Arbeitskollege. 70 Likes sollten ausreichen, um die Menschenkenntnis eines Freundes zu überbieten. „Dieses Wissen birgt für Parteien ein hohes Optimierungspotenzial für den Wahlkampf im Social Web. Die Menge, Vielfalt und Komplexität der heute verfügbaren Daten machen eine menschliche Analyse und die Identifikation darin erhaltener Zusammenhänge aber praktischunmöglich. Die Umsetzung erfordert Marketing- Automatisierungs- Plattformen, die im Idealfall eine Vielzahl an Funktionsblöcken umfasst“, erklärt Prof. Dr. Ralf E. Strauß, Präsident des Deutschen Marketing Verbands. Gemeinsam mit Julius van de Laar (Kampagnen- und Strategieberater für Unternehmen und politische Organisationen in Strategieprozessen) führte und analysierte Strauß Experteninterviews mit Wahlkampfteams aus Deutschland und Experten aus anderen europäischen Ländern. Fasst man die Studien zum Political Campaigning und die Interviews zusammen, kristallisieren sich mindestens 10 Handlungsmaxime für die politischen Parteien in Europa im Sinne eines „Political Marketing Reboot“ heraus.
1. Brand Management
Parteien müssen sich und ihre Kandidaten als Marken verstehen, die nicht nur zwangsweise aus einer blanken Aufsummierung politischer Positionen resultieren. Dies erfordert ein professionelles Brand Management wie etwa in Konsumgüterunternehmen.
2. Political Campaigning
Als Teil des Brand Management ist ein Political Campaigning dauerhaft zu etablieren. Politisches Marketing steht zunehmend im Brennpunkt, um ein besseres Markt und Marketingverständnis zu entwickeln, um die Anliegen der Bürgerinnen und Bürger (im Sinne von Consumer Insights) genauer erfassen und diese in ihrer Rolle als Wähler besser adressieren zu können.
3. Value Proposition
Die Value Proposition als Herzstück einer politischen Agenda ist professionell zu erarbeiten und für verschiedene Zielgruppen und Kommunikationskanäle
zu adaptieren und zu kaskadieren
4. Omni-Channel- Management
Die Nutzung aller Kommunikations- und Interaktionskanäle ist Pflicht, ebenso wie die 24/7-Reaktion in Echtzeit. Es geht damit nicht um die teilweise programmatisch geführten Diskussionen zwischen Offline (Straßenwahlkampf) vs. Online/Digital, vielmehr geht es darum, kontextspezifisch Zielgruppen mit relevanten Inhalten in einem übergeordneten Inhaltskonzept anzusprechen und zu gewinnen. Der Generation Y zum Beispiel – auch Millenials oder Digital Natives – werden alle Erwachsenen zugerechnet, die ab ca. 1980 geboren wurden. Sie wurden im Internetzeitalter sozialisiert, wodurch ihr Leben eine andere Prägung bekam als das der Generationen zuvor. Ihr zentraler Antrieb: Autonomie und Entfaltungsraum, Kollaboration und Selbstorganisation. Dies kombiniert mit einem „Sein statt Haben“ im Fromm‘schen Sinne, operationalisiert zu einem „Teilen statt Besitzen“. Sie präsentieren sich gemäß einer Vielzahl an Studien eher als Selbstdenker und Selbstmacher, die es gewohnt sind, selbst als Kinder bei familiären Entscheidungen mitbestimmen zu können.
5. Know-how- Aufbau
In Themenfeldern wie Brand Management oder Digital Marketing ist Know-how aufzubauen, das in den politischen Parteien nicht nur auf einzelne Funktionsbereiche begrenzt ist. Konsistenz und Effizienz im Political Marketing erfordert ein breites Fundament an Know-how in der gesamten Parteiorganisation.
6. Prozesse & Systeme
Interne Organisationsstrukturen und Systeme sind gefordert, die effizient IT-Anwendungen sowohl im Bereich Data Management, Social Media-Management oder auch der Marketing-Automatisierung einsetzen
7. Mikrotargeting & A/B-Testing
Auf der Grundlage von Datenanalyse-Systemen und Marketing-Automatisierung sind Inhalte, Bildwelten und Tonalität permanent zu testen und zu optimieren. Eine Analyse mittels Big Data erlaubt es, im Wahlkampf aufbauend auf dem zentralen Leitthema – je nach Zielgruppe – hunderttausende verschiedene Variationen von Argumenten zu versenden, sei es via Facebook oder E-Mail. Diese Argumente können sich teilweise nur in mikroskopischen Details unterscheiden, um den Empfänger psychologisch optimal zu entsprechen: Beispielsweise verschiedene Titel, Farben, Untertitel, mit Foto oder Video.
8. Content Marketing
Politische Botschaften sind kanalspezifisch und entlang der Value Proposition im jeweiligen Kontext für unterschiedliche Zielgruppen aufzubereiten. Damit dreht es sich nicht um ein monotones Wiederholen bereits bekannter Aussagen, als vielmehr die profilbasierte Ansprache der Zielgruppe mit informierenden, beratenden und unterhaltenden Inhalten, um sie von der eigenen Partei und den politischen Positionen zu überzeugen und sie als Wähler zu gewinnen oder zu halten. Während bei klassischen Medien und Display-Werbung Inhalte dem Interessenten vornehmlich im „Push“-Verfahren angetragen werden (Outbound), steht im Content Marketing die „Pull“-Wirkung im Fokus (Inbound), d.h. die Aktivierung durch ein höheres medien- und inhaltsspezifisches Involvement.
9. Polioptics
Hand-in- Hand mit Content Marketing gewinnen aufmerksamkeitsstarke Bildwelten weiter an Bedeutung. Diese sollten aktuell, authentisch und visuell interessant sein, d.h. es wird jeweils ein Bezug zu inneren Bildern hergestellt und so zu einzelnen Wahrnehmungen, die durch längere Betrachtung verfeinert werden.
10. Change Management
Die oben skizzierten Handlungsfelder erfordern ein systematisches Change Management innerhalb der Parteien, über deren jeweilige Funktionsbereiche und Gremien hinweg. „Die Ergebnisse aus den Interviews haben gezeigt, dass Targeting und Big Data wenig bis gar nicht für den Wahlkampf genutzt werden. Das Verständnis über das eigene Produkt bzw. die Partei und den Kandidaten als ‚Marke‘ sind wenig ausgeprägt und das Omni-Channel-Marketing steckt noch in den Kinderschuhen. Hier steckt noch unglaublich viel Potenzial, um Erfolg im Wahlkampf zu haben“, betont Prof. Dr. Ralf E. Strauß.