Wenn ein Unternehmen ein Rechtsproblem hat, dann geht man zum Rechtsanwalt oder zur Rechtsabteilung, um deren Rat zu befolgen. Bei einem Finanzproblem wendet man sich an die Abteilung Rechnungswesen/Controlling oder an den Wirtschaftstreuhänder, um deren Rat zu befolgen. Bei einem Marketingproblem setzt die Unternehmensleitung auf den gesunden Hausverstand, um dann die Marketingabteilung mit der Umsetzung zu betrauen.
Typisches Beispiel dafür ist General Motors. So ist GM seit Jahren auf dem amerikanischen Heimmarkt im Sinkflug unterwegs. Immer öfter hört man sogar, dass GM ums Überleben kämpft. Bei der Ursache dafür sind sich die Experten schnell einig: Die Hauptschuld liegt an einer seit Jahren verfehlten Modellpolitik, die nicht mehr den Geschmack der Amerikaner trifft.
Wie sieht daher die „logische“ Lösung aus? Der Hausverstand wird – wie immer in solchen Fällen – folgende Maßnahmen empfehlen: 1. Verbesserung der bestehenden Modellpolitik, 2. zusätzlich mehr neue Varianten, um die Kundenwünsche punktgenau zu treffen, 3. besseres Design und bessere Qualität der Automobile, 4. bessere Werbung, und so weiter. Gleichzeitig wird der Hausverstand empfehlen, dass man zusätzlich die Produktion effizienter und effektiver gestaltet. Wird man so das Problem von GM lösen? Nein, denn GM hat kein Hausverstandsproblem, sondern ein Marketingproblem.
Das wahre Problem von GM liegt nicht in der Modellpolitik, auch wenn es da sicher Verbesserungspotentiale gibt. Es liegt auch nicht in den Schauräumen, wo die Marken von GM mit ihren unzähligen Modellen den Kunden jeden Wunsch von den Augen ablesen wollen. Das wahre Problem von GM und den Marken von GM liegt in den Köpfen der Kunden: Denn wenn der Kunde an ein billiges Auto denkt, denkt er an einen Koreaner wie Hyundai oder Kia, bei einem zuverlässigen Auto an Toyota, bei einem Geländewagen oder SUV an Jeep, bei einem Minivan an Chrysler, bei einem Auto, das Fahrfreude verspricht, an BMW, bei einem sicheren Auto an Volvo, bei einem teuren Auto an Lexus, bei einem prestige-orientierten Auto (noch) an Mercedes, bei einem Sportwagen an Porsche und bei einem amerikanischen Luxusauto an Cadillac oder Ford Lincoln.
Die Marken von General Motors fallen in der Gunst immer weiter zurück, weil man niemanden mehr richtig anspricht. GM sollte heute den Hausverstand vergessen und auf den Marketingverstand setzen. Dieser sagt in solchen Situationen im Gegensatz zum Hausverstand: „Weniger ist mehr.“
So muss GM heute zuerst alle Marken im Konzern neu positionieren, um dann mit weniger, dafür effektiveren Modellen wieder auf Marktanteilsjagd zu gehen. Genau dies taten auch BMW und KTM, als sie in der Krise steckten. In den 60er Jahren war BMW (in den Köpfen der Kunden) ein weiterer deutscher Automobilerzeuger mit vielen Modellen, vom Kabinenroller bis zur V-8-Limousine und so gut wie Pleite. Dann refokussierte man die Marke auf die Idee „Fahrfreude“, um mit weniger, dafür effektiveren Modellen wieder zu punkten. Heute gehört BMW zu den wertvollsten und profitabelsten Automobilmarken der Welt. Dasselbe Bild bei KTM: In den 80er Jahren war KTM ein weiterer Zweiraderzeuger unter vielen und so gut wie Pleite. Dann refokussierte man die Marke auf die Idee „Off-Road“. Heute dominiert man diesen Markt und Paris-Dakar.
Diesen Weg sollte heute auch GM einschlagen. Denn solange General Motors sein Marken- und Marketingproblem nicht gelöst hat, werden alle anderen Maßnahmen zur Reorganisation und Restrukturierung scheitern. Wie sieht das in Ihrem Unternehmen aus? Regiert in Marketingfragen der Hausverstand oder der Marketingverstand? Möge der Marketingverstand die Oberhand behalten!
Über den Autor: Michael Brandtner ist Spezialist für strategische Marken- und Unternehmenspositionierung in Rohrbach, Oberösterreich, Associate of Ries & Ries und Autor des Buches „Brandtner on Branding“.