Von Gastautor Christopher Lesko, Leiter der Leadership Academy Berlin
Zeit ist eine Ressource. Mehr nicht. Effizienz und Effektivität im Umgang mit Ressourcen sind alltäglicher Bestandteil der Welten von Menschen in Steuerungspositionen: Managern, Beratern, Board-Membern. Auch für mich.
Mobilität und Reisen sind Alltag: Ich fliege seit 25 Jahren bei durchschnittlich zwei Flügen vier Strecken pro Woche – manchmal mehr, manchmal weniger. Ignoriere ich internationale Flüge und Verspätungen, habe ich in den vergangenen 25 Jahren – sehr knapp gerechnet – bei einer Stunde Nettoflugzeit pro Strecke etwa 15600 Stunden in Taxis zum Flughafen, auf Flughäfen und in Fliegern verbracht. In Summe 625 24-Stunden-Tage oder 1950 Acht-Stunden-Arbeitstage. Je nach Berechnungsansatz lebte ich also etwa zwei Lebensjahre – beim Acht-Stunden-Arbeitstag-Modell knappe fünfeinhalb Jahre – auf Taxi– oder Flugzeugsitzen, saß in Terminals, Lounges und stand in Warteschlangen.
Das ist eine Menge Holz. Schenkte mir heute jemand zwei Jahre am Strand oder fünf zusätzliche Jahre mit der Familie, ich griffe zu. Gerne. Ohne Widerworte.
Zweieinhalb bis fünf Jahre Lebenszeit also, verbracht in Abhängigkeit von anderen. Gerade für Menschen in Steuerungsfunktionen ein sensibles Feld: Abhängig zu sein von Zuverlässigkeit und Termintreue der Airlines, von der Kundenorientierung des Bodenpersonals gehört nicht zu jenen Kernkompetenzen, die Entscheidern souverän in jeder Sekunde des Tages zur Verfügung stehen. Menschen, die gewohnt sind, Drivers Seats zu füllen, sind eher ungern Passagier.
Airline im Sinkflug, Kunden im Ausnahmezustand
In den vergangenen Monaten durften Air-Berlin-Passagiere die Erfahrung der unangenehmen Seite von Abhängigkeit in maximaler Dichte redundant erleben: Wie TV-Kochshow-Fans, die vergeblich darauf harrten, dass selbst in der Tagesschau noch mit dem Kochen begonnen würde, warteten Fluggäste erfolglos auf pünktliche Abflüge.
Auf vielen Strecken wartete man vergeblich auf präzise Abfluginfos. Das Ergebnis: immer neue Flugverspätungen, die genervten Wartenden in Salamitaktik 30-minütig mitgeteilt wurden, wieder und wieder. Bis schließlich zwei Stunden nach geplantem Abflug eine hurtig akquirierte Alitalia Gäste im letzten Flieger von München nach Berlin karrte. Flugabsagen nach endlosen Wartezeiten, innerhalb derer die Mimik Wartender präzise einer emotionalen Prozesskette folgte: Ärger, dann Hoffnung, Wut, schließlich stumpfe Depression. Am Ende der Kette enterten statt Passagieren Fluggastklone wie Roboter die Flugzeuge: Man hatte aufgegeben. Nicht wenige Air-Berlin-Vielflieger hätten selbst einen Absturz der Maschine erleichtert als Erlösung aus endlosen Warteschleifen begriffen.
Im vergangenen Jahr maximierte die inzwischen abgestürzte Airline ihren Hang zur soliden, moralischen Flexibilität Kunden gegenüber in einer Perfektion, die allemal für die Gründung eines Start-ups im Weiterbildungsmarkt genügt hätte: Ein Fortbildungszentrum zur professionellen Ausbildung von Masochisten hätte Air Berlin immerhin den Sektor der horizontalen Erfrischungen erobern lassen und mit seinen Einnahmen vielleicht die Insolvenz verzögert.
Effizienz und Effektivität? Die Wahrheit ist: Aus Kundensicht war Air Berlin seit Ende 2016 minimal effektiv und dabei maximal effizient. Minimale Effektivität, also das Falsche zu tun, und dabei maximal effizient zu sein bildet den Königsweg der Karikatur des eigenen Geschäftsauftrages. Tragisch, trotz aller Abschieds-Schokoherzen-Romantik: mindestens so tragisch wie das aktuell gefühlte Monopol der Lufthansa-Gruppe im Rahmen des Wettbewerbs zumindest innerdeutscher Flugstrecken als Konsequenz der Air-Berlin-Pleite.
Überlebensstrategien über den Wolken
Lebenszeit will gefüllt sein. Selbst in Fliegern. In Strategien, in gewohnten Routinen des Umgangs mit der Ressource Zeit unterscheiden sich Business-Vielflieger:
Die „Arbeiter“ nutzen die Zeit über den Wolken für Offlinemails, für die Arbeit an Konzepten, Dokumenten und Präsentationen oder lesen im Kontext von Businessthemen. Nur durch den Mittelgang voneinander getrennt, saß eine frühere Spitzenpolitikerin der Union einmal in der ersten Reihe neben mir – die für jeden sichtbar ausgebreiteten Ordner mit Geheimhaltungs- und Vertraulichkeitsvermerken neben sich. Eine unauffällige Smartphone-Dokumentation hätte den Boulevard locker um die eine oder andere Schlagzeile bereichern können. Immerhin: Beim Aussteigen gab sie der Crew zehn Euro Trinkgeld.
Die „Jägermeister“ tragen Geweihe aus Kopfhörern: Sie gestalten schon ihren Weg durch die Gangway und den Flug bis zur Landung unter permanenter musikalischer Beschallung. Akustisch, je nach Musik, sicher entspannend. Visuell dann gewöhnungsbedürftig, wenn das audiophile Mons-trum auf dem Schädel nur ungelenk mit dem feinen Armani-Zwirn und der güldenen Sehhilfe korrespondiert.
„Schläfer“ wie ich wählen Fensterplätze: Sie steigen früh in die Maschine und schließen zeitnah die Augen, um sie erst nach dem Touch-down wieder zu öffnen. So wird der Akku nach kurzen Nächten oder langen Arbeitstagen punktuell ein wenig gefüllt.
Die „Kontaktwütigen“ suchen Gespräche: Ihr verbales Portfolio folgt von Anbaggern bis Flugangst-Wegreden unterschiedlichen Zielen. Ich erinnere mich an einen Lufthansa-Flug von München nach Berlin. Ich wurde in der Warteliste berücksichtigt und saß auf dem Mittelplatz der ersten Reihe: rechts neben mir eine bekannte, attraktive deutsche Schauspielerin, links neben mir ein CEO, der später CEO einer Airline werden sollte. Miteinander über ein Thema zu schweigen schien dem CEO nicht attraktiv genug: Der nicht mit üppig ausgestatteter Körperlänge gesegnete Topentscheider nahm um mich herum in beneidenswerter Hartnäckigkeit die Kommunikation mit der Schauspielerin auf und hielt den Prozess bis zur Landung durch. Zielorientierung und Konsequenz sind die Gaben von Entscheidern. Ich als „Schläfer“ lernte: Augen und Ohren sind unterschiedliche Sinnesorgane. Das Schließen meiner Augen half kaum dabei wegzuhören. Immerhin genoss ich nach der Landung heimtückisch den Moment, in dem der Kavalier als Mann großen Einflusses und eher kleinen Wuchses der schönen Schauspielerin vergeblich ihren Zentner-Koffer aus der Gepäckablage wuchten wollte. Der Kavalier über den Wolken sah nun die Wolke der Gepäckablage meterhoch über seinen ausgestreckten Armen: ein Youtube-würdiger, paradoxer Moment. Auch für CEOs ist das Leben halt nicht immer billig.