Die Führungsriege von Philips ist auf gar keinen Fall sentimental. Oder verliebt in die Erfolge der Vergangenheit. Sie klebt auch nicht an ihrer Produktpalette. Stattdessen warf sie in den vergangenen Jahren vieles über Bord, was den niederländischen Konzern einst groß machte. Zum Beispiel die Halbleitersparte, das Geschäft mit TV- und Entertainment und derzeit auch noch den Konzernbereich Licht.
Derlei radikale Einschnitte dürften in den 126 Jahren Firmenhistorie ihresgleichen suchen. Initiiert, gelenkt und durchgehalten wird dieser respekteinflößende Transformationsprozess von Frans van Houten. Van Houten arbeitet mit kurzen Unterbrechungen seit 1986 für Philips, seit 2011 ist er der Konzernchef. Sein erklärtes Ziel: Philips zum führenden Gesundheitsunternehmen der Welt zu machen.
Das große Zusammenrücken
Philips verkauft laut Eigenangaben jährlich weltweit rund 900 Millionen Produkte an zwei Milliarden Menschen. Was viele von ihnen nicht wissen: Philips stellt schon von jeher auch Medizingeräte her. In Hamburg zum Beispiel kaufte Philips bereits 1927 die Firma C.H.F. Müller, bekannt als „Röntgenmüller“. Heute zählt der Konzern zu den Top drei der globalen Medizingeräteproduzenten. Nun soll beides zusammenkommen: das Wissen über die Konsumenten und ihre Bedürfnisse einerseits und das medizinische Know-how andererseits. Mit der Symbiose aus Konsumentengeschäft, Healthtech-Business und Digitalisierung will Philips zukunftsfit werden. Das Zusammenrücken der Sparten inklusive Aufbruchstimmung und sichtbarer digitaler Transformation hat Philips in Hamburg sozusagen in Stein gemeißelt: Die Deutschlandzentrale zog Anfang 2016 aus der Innenstadt zurück an ihre Wurzeln, nämlich zum Sitz der Philips Healthcare-Urzelle C.H.F. Müller in die Röntgenstraße in Fuhlsbüttel.
Philips fertigt hier bis heute unter anderem Röntgengeräte. Neben das Werk setzte der Konzern für 40 Millionen Euro ein schickes Bürogebäude, das nach den Gesetzen des New-Work-Trends gebaut ist: viel offene Büroflächen, viel Farbe, Google-Anmutung, keine Einzelbüros, keine starren Abteilungen und damit, so die Hoffnung, auch kein Silodenken mehr. Wer seinen Schreibtisch für mehr als zwei Stunden verlässt, muss ihn räumen. Desksharing ist angesagt und somit das nahezu papierlose Büro. Statt Regalmeter Stauraum verfügt jeder Mitarbeiter nur noch über einen abschließbaren Spind.
Weg vom TV- und Entertainmentgeschäft
Licht war die Keimzelle des Unternehmens – die Herstellung von Kohlefadenlampen hat den Laden überhaupt erst groß gemacht. Schaut man sich allerdings die Entwicklung dieser beiden Produktbereiche an, ist schnell klar: So richtig vielversprechend sind die derzeit nicht: Im TV- und Entertainmentgeschäft sinken die Margen, die asiatische Konkurrenz ist stark. Bei der Produktion von Leuchtmitteln geht der Trend zu LED, also zu Produkten, die immer günstiger werden und – für die Hersteller fatal – sehr lange haltbar sind. Dennoch bleibt die Fokussierung aufs Gesundheitsthema eine mutige Entscheidung, schließlich entfielen auf die Sparten Healthcare, Consumer Lifestyle und Lighting zuletzt jeweils ein Drittel des Konzernumsatzes. Mit dem Lichtgeschäft fällt also erst einmal ein Riesenbatzen weg.
Allerdings war das bei der Abspaltung des TV- und Entertainmentgeschäfts im Jahr 2012 genauso; laut Eigenangaben konnte Philips den entgangenen Umsatz bereits zu großen Teilen kompensieren. Für Thomas Schönen, Head of Brand, Communications, Digital & Marketing DACH, ist die Positionierung goldrichtig: „Wir glauben, dass wir auf den größten Wachstumsmarkt setzen, den die westliche Welt oder auch die Weltgesellschaft hat: Gesundheit. Gesundheit zählt dank der Digitalisierung zu den Bereichen mit dem höchsten Potenzial.“ Um dieses Potenzial auszuschöpfen, entwickelt sich Philips mehr und mehr vom Gerätehersteller zum Softwareunternehmen.
Vertrauensvorsprung gegenüber Google & Co.
Philips will erklärtermaßen zum Lebensbegleiter von drei Milliarden Kunden werden, und zwar von Anfang bis Ende, von der pränatalen Ultraschalluntersuchung bis zur Pflege im Alter. Das hat mit dem blanken Produktverkauf nur wenig zu tun. Das Geschäftsmodell spiele sich ab in einem Dreieck zwischen Consumer, Geräte-Know-how und Daten, erklärt Schönen. Gerade wenn es um Daten geht, bewegt sich Philips in einem neuen Wettbewerbsfeld. Mit der neuen Gesundheitsuhr, die Herzfrequenz, Daten des Herz-Kreislauf-Systems, Aktivität oder Schlaf misst, konkurriert Philips zum Beispiel mit etlichen Wearable-Herstellern, allen voran der Apple Watch. Beim Bemühen um digitale Gesundheitsplattformen
könnte sich Datengigant Google einmischen. Aber, so Schönen: „Daten heilen keine Krankheit. Google und Apple können zwar Unmengen an Daten generieren, aber sie haben keine Geräte, die helfen oder heilen. Zudem fehlt ihnen der Zugang zu Ärzten, die die Daten erheben und auswerten, und zum wissenschaftlichen System. Außerdem geht es um Vertrauen. Das ist unser großes Asset. Es gibt wohl niemanden, dem die Menschen weniger zutrauen, mit ihren Daten verantwortungsvoll umzugehen, als Google. Da haben wir 126 Jahre Vorsprung.“
Philips sucht derzeit Verbündete in der Politik, in Kliniken, in der Wissenschaft, bei Versicherungen und in Arztpraxen, um die Digitalisierung für das Gesundheitswesen nutzbar zu machen. Im ersten Quartal 2017 startet auf dem Gelände von Philips der sogenannte Health Innovation Port (HIP), ein Coworking-Hub mit Fokus auf E-Health, Gesundheit und Medizintechnik. Der HIP wird von der Stadt Hamburg unterstützt. Auf gut 1 000 Quadratmetern sollen junge Unternehmen Ideen rund ums Thema Gesundheit entwickeln – wenn gewünscht sieben Tage die Woche, 24 Stunden am Tag. Philips stellt moderne Büroflächen – selbstverständlich inklusive Chill-out-Areas – und Experimentierflächen. Start-ups und Traditionskonzern sollen sich gegenseitig befruchten.
Kulturwandel ist angesagt
Durch die Fokussierung auf das sogenannte Health Continuum rücken B-to-C- und B-to-B-Marketer zusammen, und dies nicht nur rein räumlich, sondern auch strukturell: Schönen leitet beide Bereiche übergreifend in Personalunion. Nun bewegen sich diese beiden Spezies bekanntlich gern mal in Paralleluniversen. Die Consumer-Experten agieren Insight-getrieben und entwickeln große Kampagnen mit emotionalen Bildwelten. Die B-to-B-Profis arbeiten hingegen in einem klassischen One-to-One-Geschäft, in dem ein Außendienstler einem Arzt, Krankenhaus-Chef oder Einkäufer mit rationalen Argumenten ein Gerät verkauft. „Das Zusammenzuführen erfordert einen kulturellen Wandel“, berichtet Schönen.
Wer MRTs kann, kann auch Haartrockner
Die neue Positionierung, neue Strukturen und Prozesse sind intern angekommen. Jetzt gilt es, die Transformation des Konzerns nach außen zu kommunizieren: Mit einer groß angelegten Kampagne profiliert sich Philips bei den Konsumenten als Gesundheitsunternehmen. Im Fokus stehen die drei Themen Mutter und Kind, Atmung und Kardiologie. Die Hamburger Marketer setzen auf Motive mit „Stopperqualität“. Etwa auf eine junge Frau mit Schlauch in der Nase, ein Baby auf der Frühgeborenenstation oder einen älteren Mann vor einem MRT. Kurzum: Philips kommuniziert in dieser Kampagne deutlich als Healthtech-Unternehmen; es besteht keinerlei Verwechslungsgefahr mit einer Werbung von Versicherungen oder Lebensmittelhändlern, die sich ja derzeit gern in generischen Bildwelten bewegen.
Als Nächstes wollen die Marketer von Philips sukzessive die Marketingkommunikation für einzelne Produkte in Richtung Gesundheit lenken. So handelt zum Beispiel die Werbung für Zahnbürsten nicht mehr von einem schönen, sondern von einem gesunden Lächeln. Es wird im nächsten Schritt also darum gehen, die neue Ausrichtung im Detail auf jede Kommunikationsmaßnahme herunterzubrechen.
Frans van Houten sagte Anfang November 2016 anlässlich eines Kapitalmarkttags in London, dass Philips in den kommenden drei bis vier Jahren ein jährliches Umsatzwachstum von vier bis sechs Prozent anstrebt. Damit soll der neu ausgerichtete Konzern genauso wachsen wie seine Hauptwettbewerber in der Medizintechnik General Electrics und Siemens. Im Jahr 2020 will van Houten die 20-Milliarden-Euro-Umsatzhürde nehmen (2015 waren es 16,8 Milliarden Euro Umsatz). Zugleich soll die Profitabilität jährlich um einen Prozentpunkt zulegen. Keine Zeit für Sentimentalitäten also.
Dieser Artikel erschien in der Print-Ausgabe der absatzwirtschaft 01/02/2017. Es können seitdem aktuelle Entwicklungen aufgetreten sein.