Um 20.15 Uhr beginnt der Fernsehabend. Über Jahrzehnte war dieses Mantra im deutschen Fernsehen gesetzt – und wegen der Tagesschau beginnen auch Privatsender dann erst mit Ihrer Primetime. Selbst wenn dort vorher gar keine Nachrichten laufen. Erst nach der Tagesschau stiegen die Reichweiten auf das Tageshoch – und gleichzeitig gibt es zu dieser Uhrzeit für die privaten Programme keine öffentlich-rechtliche Werbekonkorrenz mehr. Dass sich Nutzungsverhalten und auch Tagesrhythmen in den vergangenen Jahren drastisch verändert haben, ist schon fast eine Binsenweisheit. Ist die Primetime um 20.15 Uhr trotzdem noch gesetzt? Und wie müssen sich Programme und Werbung ändern, damit sie funktionieren?
Der Peak der Nutzung liegt nach wie vor in der Zeit ab 20 Uhr, wie Frank Vogel vom RTL-Vermarkter Ad Alliance betont. Das ist zwar richtig, aber der Bedeutungsverlust der Primetime im linearen TV ist trotzdem nicht wegzureden. Auch, dass dieser Trend anhalten wird, gilt unter Expert*innen als sicher.
Inga Leschek, Programmgeschäftsführerin von RTL und RTL+ will das Lagerfeuer Primetime dennoch nicht gänzlich verloren geben, wie sie im Gespräch mit der absatzwirtschaft sagt: „Die Herausforderung ist, für die großen Must-See-Momente zu sorgen und die finden nicht in der Nische statt, sondern linear – egal über welchen Kanal.“ Dschungel, Let’s Dance oder Sport-Events seien Momente „die will man live erleben, nicht zeitversetzt, nicht am kleinen Screen.“
Wenige Sport-Highlights abseits vom Fußball
Diese Lagerfeuer-Momente mit Sport zu schaffen, gelingt allzu oft nur mit teuren Fußball-Rechten. Oder in kleinerem Ausmaß, wenn zum Beispiel Sport1 die Rechte an der Eishockey-WM hält – und Deutschland sensationell ins Finale einzieht. Dann schauen beim Spartensender auch gerne mal fast zwei Millionen zu. Danach ebbt das Interesse schnell wieder ab. Doch es gibt die Ausnahmen, zum Beispiel die Football-Rechte der NFL, die bei ProSiebenSat1 in den vergangenen Jahren einen echten Hype erzeugt haben. Jetzt will RTL die Früchte dieser Vorarbeit ernten und hat sich die Rechte gesichert.
Doch weil es mit dem Sport so schwer ist, bleibt häufig nur die Show als Zündstoff für das Lagerfeuer. Immer stärker setzen die Sender dabei auf XXL-Shows, mit denen sich die Quoten steigern lassen. Das Kalkül: Wenn die Show länger geht, steigen die Marktanteile, weil die Gesamtreichweite auf allen Sendern mit späterer Uhrzeit abnimmt. Aber natürlich sinkt dann auch die Reichweite der Show selbst, weil im Verlauf des Abends viele Zuschauer*innen abschalten.
Wir senden durch bis morgen früh
Extrembeispiel: Als ProSieben im Juni „Schlag den Star“ zeigte, dauerte die Entscheidung im engen Duell bis zwei Uhr nachts. Über die gesamte Sendezeit schauten im Schnitt 430.000 Menschen zwischen 14 und 49 zu – dabei ist klar, dass um 1:30 Uhr ein Großteil schon im Bett war. Um den Schnitt zu erreichen, müssen als zu früheren Uhrzeiten deutlich mehr Menschen zusehen. Die für den Sender erstrebenswerte Zahl: Der Marktanteil in der Zielgruppe lag bei stolzen 13,7 Prozent. Diese Zahl sieht in der Vermarktung hübsch aus. Wie viel Bedeutung sie tatsächlich hat – andere Frage.
Wie beim Football sticht auch hier ProSieben hervor. Der Sender feierte in den vergangenen Jahren beispielsweise mit „The Masked Singer“ aber auch mit „Wer stiehlt mir die Show?“ große Erfolge. Doch natürlich hat auch RTL seinen Anteil am Kuchen, beispielsweise mit dem Dschungelcamp. Nun hat sich die RTL Gruppe aber dennoch zwei weitere Kuchenstücke von ProSieben stibitzt. Sowohl „Schlag den Besten“ als auch „Blamieren oder Kassieren“ werden im kommenden Jahr bei RTL zu sehen sein. Zuletzt hatte RTL schon das Turmspringen von Stefan Raab gezeigt. Spannend wird dabei aber auch sein, ob die Übernahme von Sendungsmarken, die von ProSieben bekannt sind, für RTL ohne Weiteres funktioniert – oder ob der Markentransfer Probleme macht.
TV bleibt unerlässlich
Klar ist aber ohnehin: Diese Leuchttürme sind genau das – hervorstechende Elemente mit Seltenheitswert. „Für das lineare TV ist das eine große Herausforderung. Die Erzielung von hoher Reichweite in kurzer Zeit ist ein wesentliches Argument zur Buchung von linearem TV. Dieser Vorteil erodiert, Budgets wandern in digitale Kanäle und gleichzeitig steigen die Kosten für Leuchtturmformate mit großer Reichweite an“, sagt Raffaela Dreyer, Managing Partner der Mediaagentur PHD Germany. Die hohen Reichweiten würden also nicht mehr auf einen Schlag erzielt, vielmehr wird es notwendig, den fragmentierten Zielgruppen auf verschiedene Kanäle zu folgen. Dennoch gilt für Dreyer: „Nach wie vor ist für den schnellen Reichweitenaufbau in breiten Zielgruppen das lineare TV unerlässlich.“
Gechallenged wird die Primetime neben den Streaming-Anbietern auch durch die vielfältig aufkommenden FAST-Channels. FAST steht für Free Ad-Supported Streaming TV, also kostenlose, werbefinanzierte lineare Streamingkanäle. Die werden derzeit gerade so großflächig von allen möglichen Anbietern wie DAZN, Amazons Freevee oder Waipu.TV eröffnet, dass man sich fast fragen möchte, ob es künftig für jede*n Abonnent*in einen eigenen Kanal geben soll.
So will YouTube im Paid-Markt gewinnen
Den umgekehrten Weg geht währenddessen YouTube: Die auch nach langen Jahren überwiegend nur kostenlos genutzte Plattform versucht sich an seinen Primetime-Channels, will also schon dem Namen nach in die Premium-Watchtime reinstoßen. Deutschland wird dabei als zweiter Markt nach den USA von YouTube mit Primetime-Channels besiedelt. Die Nutzenden können einzelne lineare Kanäle abonnieren, wie beispielsweise Motorvision TV, ARD Plus oder Sport1+.
Für die Werbevermarktung wird es spannend zu sehen sein, wie es bei YouTube laufen soll. Die Channel-Betreiber können nach Auskunft von YouTube selbst entscheiden, ob sie Werbung schalten wollen. Denkbar ist auch, dass es für einzelne Channels eine werbefreie Premium-Variante und eine mit Werbeschaltung gibt. Selbst für YouTube-Premium-Nutzende kann es Werbung geben. Das Unternehmen hält sich alle Türen offen. Ob es das für Nutzer*innen attraktiver macht?
Dazu kommt: YouTube hält sich bedeckt, was die Veröffentlichung von Daten anbelangt. So wie man es von den anderen Streamern auch kennt. Prinzipiell werden Statistiken nicht veröffentlicht, die Channel-Betreiber können sich aber dazu entscheiden, sie dennoch zu publizieren. Die Entscheidung, was die Primetime nun aber ist, sieht YouTube bei seinen Nutzenden – möchte sich also auf keine Zeit festlegen. Zumindest öffentlich nicht. „Menschen kommen zu YouTube, weil sie Wert auf Auswahl legen“, heißt es nur. Dabei bezieht sich das Unternehmen auf Kanäle, Screenarten – aber eben auch Uhrzeiten.
Der Sky-Paukenschlag
Entscheidend für den Erfolg dürfte dabei aber auch sein, mit wie viel Aufwand das Programm gemacht wird. Gerade fiktionale Inhalte sind hier besonders teuer – bieten aber häufig auch viel Lagerfeuerpotenzial. RTL versucht sich daher künftig wieder an einem Krimiabend. Bei Sky hingegen sieht die Welt anders aus: Mit einem Paukenschlag wurde Ende Juni bekannt, dass der Sender den Stecker für sämtliche fiktionale Eigenproduktionen zieht. Wie kurzfristig diese Entscheidung von hoher strategischer Bedeutung kam, zeigt sich daran, dass auch Serien beendet wurden, die bereits in Arbeit waren. Zumal die Attraktivität des Angebots, das preislich doch eher im Premiumsegment angesiedelt ist, schon dadurch gesunken ist, dass im Sportrechte-Bereich seit Jahren deutliche Einbußen spürbar sind. Und, weil exklusive Rechte an Serien- und Film-Höhepunkten immer schwerer zu bekommen sind.
Der Fokus liegt eher auf Dokus, wie Sky-Programmchefin Elke Walthelm bei DWDL sagt: „Dokus entwickeln sich immer mehr zu Highlights, über die gesprochen wird.“ Das Themenspektrum reicht dabei von König Juan Carlos bis Parfüm-Influencer Jeremy Fragrance. Auch bei anderen Sendergruppen gibt es vergleichbare Angebote. Bei RTL beispielsweise gab es jüngst zur besten Sendezeit eine Doku über Bushido zu sehen. Frei nach dem Motto: Von der Primetime zum Bordstein zurück. Wie viel diese vermeintlichen Dokus unter Mitwirkung der Protagonisten noch mit echter Doku zu tun haben und wie viel sie reine PR sind, darüber lässt sich oft streiten. Vermarkten lassen sie sich aber meist gut.
Die Strategien der großen Sendergruppen und Plattformen sind sehr unterschiedlich. Sowohl was die Inhalte als auch was die Geschäftsmodelle anbelangt. Aber egal ob Bezahlinhalte oder reine Werbefinanzierung und egal ob Sport, Show, Fiction oder Doku: Alle wollen sie das Lagerfeuer sein, das es in der fragmentierten Medienwelt immer seltener gibt. Die Ironie dabei: Je mehr Player um einen Platz am Feuer kämpfen, umso unkomfortabler werden diese Plätze. Dass das Feuer gänzlich erlischt ist unwahrscheinlich. Aber die Flammen lodern kleiner. Und am Ende wird doch so mancher Akteur von der Primetime zum Bordstein zurück müssen.