Die Automobilbranche hatte bis vor kurzem noch Vorbildcharakter: Innovationstreiber, Vorbild für viele Management- und Entwicklungsthemen und Wachstumsmotor für ganze Volkswirtschaften. Zwei Jahre nach dem Beginn des Dieselskandals scheint alles anders. Produkte, Prozesse, Management und Geschäftsmodelle stehen auf dem Prüfstand. Selbst der Gang zur IAA wird nicht mehr von allen Automobilherstellern zum Selbstverständnis. Tesla, Volvo und Nissan sind nicht mehr präsent.
Zu viel Aktionismus schadet der Marke
Die E-Auto-Revolution hat fast alle Hersteller erfasst. Ob VW, Mercedes oder Volvo: Keiner will sich nachsagen lassen, den Anschluss verpasst zu haben. VW will bis 2025 etwa 50 rein elektrische Fahrzeuge im Konzernportfolio haben. Tesla und die chinesischen E-Auto Hersteller geben den Takt vor, deutsche Anbieter reagieren und versuchen ihre Agilität zu erhöhen.
Was dabei vergessen wird: Zu viel Agilität führt zu Fehleranfälligkeit, und umgekehrt führt Trägheit zum Verlust der Relevanz am Markt. Eine Balance aus Agilität und Robustheit – Resilienz genannt – ist also gefordert, um sich im immer schneller verändernden digitalen Umfeld gegen völlig neue Wettbewerber durchzusetzen.
Wenn Manager Marken richtig einsetzen, sind sie das perfekte Instrument, um Unternehmen die notwendige Agilität und unverzichtbare Robustheit zu verleihen. Denn diese beiden Eckpfeiler geben den Handlungsrahmen vor, in dem sich Unternehmen neu erfinden können – ohne die Gefolgschaft von Kunden und Mitarbeitern aufs Spiel zu setzen. Innovationen werden dann nicht nur der Innovation wegen kreiert, sondern weil sie relevant sind und glaubwürdig zur Marke passen.
Wie es um die Markenresilienz der deutschen Automobilmarken steht, ist in der aktuellen BrandTrust Markenresilienz Studie zu lesen.
Von der Funktion zur Bedeutung
Wenn man die derzeitige Kommunikation der Automobilhersteller sieht, glaubt man, Kunden entscheiden sich für ein Fahrzeug, weil der die Straße neuerdings fast taghell ausgeleuchtet ist. Kunden wählen ein Elektrofahrzeug nicht wegen des besseren Antriebs. In gesättigten Märkten kaufen Kunden nicht mehr was sie brauchen, sondern was sie sich wünschen. Sie begehren Produkte und Angebote, die übergeordnete, meist unausgesprochene Knappheiten der Zukunft erfüllen. Die grössten Knappheiten entwickelter Märkte sind dabei nicht fehlende Mobilität, sondern mangelnde Zeit, Spass, Wertschätzung und Bedeutung. Die Kunden von Morgen brauchen kein Auto, um von A nach B zu fahren. Das können Sie mit Uber, dem E-bike oder der Bahn. Sie wollen die Zeit besser nutzen, mehr Spaß zwischen A und B haben und sich mit den Produkten, mit denen man sich umgibt, ausdrücken.
Es geht also nicht darum, wie viele Neuerungen welcher Hersteller in welcher Zeit in den Markt pumpt, sondern welche Lebensknappheiten die Anbieter mit Ihren neuen Antriebs-, Mobilitätskonzepten und Geschäftsmodellen besser beseitigen als die Wettbewerber. Dazu benötigt es neue Visionen, Missionen, Strategien und weiterentwickelte Markenpositionierungen, unter denen die vielen Neuerungen vermarktet werden. Nur unter diesen Voraussetzungen werden Hersteller die nötige Bedeutung in der Gesellschaft behalten und in gesättigten Märkten weiter wachsen.
Über den Autor: Jürgen Gietl ist Managing Partner von Brand Trust mit langjähriger Erfahrung im operativen und strategischen Management von Marken. Seine Sachkenntnis nutzen namhafte mittelständische Unternehmen und globale Konzerne. Gietl ist ein gefragter Dozent auf zahlreichen Kongressen und an Hochschulen.