Barrierefreies Kino: von Datenbrillen und Handy-Apps

Wie Barrierefreiheit im Kino individualisiert werden soll – und an welchen technischen Problemen es aktuell noch scheitert, obwohl es längst eine Lösung gäbe.
Eine Person im Kino nutzt die App "Greta".
Die App "Greta" soll hör- und sehbehinderten Menschen den Kinobesuch durch Audiodeskriptionen und Untertitel erleichtern. (© Andi Weiland/Gesellschaftsbilder.de)

Von Wille Felix Zante

Die 2013 veröffentlichte App „Greta & Starks“, mittlerweile zu „Greta“ zusammengeführt, soll hör- und sehbehinderten Menschen den Kinobesuch erleichtern. Die App kann über Kopfhörer Audiodeskriptionen ausspielen und auf dem Handy- oder Tabletbildschirm Untertitel einblenden. Voraussetzung ist, dass die entsprechenden Dateien bei dem Dienst hochgeladen werden.

Bei einer Audiodeskription werden wichtige Informationen, die man auf der Leinwand nur sieht, aber nicht hört, eingesprochen. Mit der App gibt es die Möglichkeit, auf dem Handy eine Tondatei abzuspeichern und diese synchron mit dem Film abzuspielen. Kopfhörer rein, und schon kann ein barrierefreies Kinoerlebnis genossen werden, unabhängig von der technischen Ausstattung des Kinos. Das zeitgleiche Abspielen der Datei wird clever gelöst, indem das Handy horcht, wo der Film gerade ist, und die Spur an die entsprechende Stelle bewegt.

Naheliegend, das Konzept auch auf die andere große ausgeschlossene Gruppe in der Kinolandschaft zu übertragen: Gehörlose. Zwar gibt es hier bereits eine verbreitete Lösung, viele Kinos zeigen Originalfassungen der Filme mit Untertiteln. Das geschieht nicht vorrangig für Hörbehinderte, sondern um Filme im Originalton zeigen zu können, auch wenn nicht das komplette Publikum diesen versteht. Einleuchtend, dass sie vor allem in divers aufgestellten oder von Tourist*innen sehr frequentierten Großstädten verbreitet sind. Auch deutsche Filme werden deshalb manchmal mit Untertiteln gezeigt – mit englischen wohlgemerkt. Wer als Gehörloser einen deutschen Film gucken will, schaut sprichwörtlich in die Röhre: Meist ist der Film erst im Fernsehen untertitelt. Perfide dabei ist: Das Filmfördergesetz (FFG) sieht vor, dass vom deutschen Filmfonds geförderte Filme eine barrierefreie Fassung vorweisen müssen. Es sieht aber nicht vor, dass diese Fassung auch im Kino gezeigt werden muss. So entstehen Untertitel- und Audiodeskriptionsdateien, die erst für DVDs oder Fernsehausstrahlungen verwendet werden.

Grundsätzlich schätzten User*innen die Freiheit, in jedem Kino fast alle Filme sehen zu können, doch es wurde berichtet, dass das erleuchtete Handydisplay, auf dem man die Untertitel verfolgen kann, störe. Ironischerweise ist das Argument der App-Entwickler*innen, dass Untertitel auf der Leinwand viele Besucher*innen stören würden.

„Greta“ will nun mit einer Datenbrille im Stil von Google Glass doch noch den Durchbruch schaffen. Das Argument: Man wolle gehörlosen Menschen einen Kinobesuch ermöglichen, ohne die anderen Besucher*innen zu stören.

Mit Untertiteln zu mehr Barrierefreiheit

Das Problem kennt Gerhard Protschka vom Schweizer Filmfestival „Look & Roll“ nicht. Nicht nur ist sein Festival komplett darauf ausgelegt, für möglichst viele Besucher*innen zugänglich zu sein: Audiodeskription wird über spezielle Kopfhörer ausgespielt, Untertitel sind Standard auf der Leinwand, Rollstuhlplätze großzügig vorhanden. Daneben erstellt er auch für andere Festivals auf Anfrage Untertitel und Audiodeskription. Das Filmfest Dresden ist einer seiner prominentesten Kunden und hat konsequent komplette Programme einfach untertitelt. Ohne Beschwerden, so Protschka, sogar erfolgreich. Für ihn ist das Konzept eines separaten Geräts nicht nachvollziehbar, er sieht auch eine Stigmatisierung der Besucher*innen. Will man das, so offensichtlich als „der Behinderte“ markiert zu werden? Als anders? Hervorstechend? Auch die Datenbrillen kritisiert er als klobig, schwer und störanfällig.

Der taube Ingenieur Adam Stone konnte im Oktober 2021 den neuesten Stand der Technik für das britische National Theatre testen und fand sie cool – mit großem Aber. Auch nach vier Jahren Feinschliff sind die Gläser anstrengend zu tragen. Kopf- und Augenschmerzen, eine Batterie, die nur bis zur Pause der Aufführung reicht, unhandliche Steuerungseinheiten, die man sich um den Hals hängen muss. Teilweise, so Stone, mussten sie die Gläser mit den Händen in Position halten, weil sie so schlecht saßen. Er merkt an: „Ist es nicht interessant, dass Theater kein Problem darin sehen, Untertitel für hörende Menschen auf Displays an der Bühne zu zeigen, wenn die Aufführung in einer Fremdsprache ist?“ Er mahnt an, dass man verstärkt mit tauben Expert*innen und weniger mit nicht behinderten Techniker*innen oder Linguisten zusammenarbeiten sollte.

Die „Greta“-Datenbrille ist seit 2017 in der Entwicklung, ich konnte sie bei einer offiziellen Testvorführung als Prototyp ausprobieren. Die Technik stockt seither, „Greta“ ist auf der Suche nach Geldgebern, die das Projekt weiter finanzieren, um ein alltagstaugliches Produkt zu entwickeln. Heute gibt es keine derartige Brille für den Hausgebrauch. Wie Stone fand ich die Technik cool und faszinierend, aber belastend. Die Gläser sind nämlich alles andere als unsichtbar, sowohl für die Leute, die sie tragen, als auch für die Umgebung. Wer mal eine Brille hat anpassen lassen, wird außerdem ahnen, dass das Gerät, um einiges schwerer als eine normale Brille, einfach nicht perfekt sitzen kann. Die Untertitel schwimmen auf einer halb transparenten Kachel in der Luft. Bewege ich den Kopf, bewegen sich die Untertitel mit. Es ist mehr als suboptimal, es fühlt sich fremd und störend an. Mit moderner Technik könnte man die Untertitel vielleicht anhand der Leinwand im Raum fixieren. Aber wie auch Stone stelle ich mir immer die Frage: Wieso eigentlich, wenn es schon eine perfekte Lösung gibt?

Genau die gleiche Frage stelle ich mir verstärkt, wenn ich sehe, wie der Fernsehsender RTL für seine Ausstrahlungen etwa von „Faking Hitler“, der neuen Serie mit Lars Eidinger und Moritz Bleibtreu, die „Greta“-Lösung bewirbt. Dabei hat die Sendung zuschaltbare Untertitel, die sowieso an jedem Fernseher individuell aktiviert werden können, eine Technik, die es seit Jahrzehnten gibt. Auf Nachfrage antwortete eine RTL-Sprecherin, dass es durch die unterschiedliche Zusammenstellung aus Endgeräten wie Fernseher, Receiver oder Set-Top-Box immer wieder technische Probleme mit den Untertiteln gibt, weshalb man sich entschlossen hatte, die „Greta“-Lösung einzubeziehen, um eine möglichst große Zielgruppe zu erreichen: „Die Reaktionen auf unser barrierefrei aufbereitetes Programm sind sehr positiv, vor allem im Rahmen der Greta & Starks-Kooperation erreichen wir eine sehr viel größere Zielgruppe. Vereinzelt kann es jedoch hin und wieder vorkommen, dass die UT in der begleitenden Ausstrahlung über die Subtitle-Taste auf der Fernbedienung nicht einwandfrei laufen, das heißt, eine deutlich kürzere Standzeit aufweisen.“ Und weiter: „Bei Fehlern dieser Art ist es häufig so, dass in der Verbindung unterschiedlicher Endgeräte miteinander eines der Empfangsgeräte ohne durchgeführte Updates genutzt wird.“ Im Praxistest finde ich es auf die im Vergleich zum Kinosaal kurze Distanz selbst mit einem großen Tablet anstrengend, ständig mit den Augen zwischen den Bildschirmen zu wechseln.

Komplizierte technische Gadgets

Es ist und bleibt bizarr, dass angesichts niedrigschwelliger erprobter Lösungen wie Rampen, Aufzügen oder eben Untertiteln auf Leinwand weiterhin auf unnötig komplizierte technische Gadgets gesetzt wird. Sicher – es sind einfallsreiche Lösungen, aber sie sollten nicht als Nonplusultra gelten, die alle nutzen müssen. Sie sind eben das: Gadgets, coole Tricks, die zeigen, welche Optionen es gibt. Wenn es Barrierefreiheit für alle gibt, aber nur ungleichmäßig verteilt, dann ist es nämlich keine. Dann haben wir uns als Gesellschaft keinen einzigen Zentimeter weiterbewegt. An den Untertiteln, wie sie fast alle Streaminganbieter bereits anbieten, gibt es eigentlich nichts mehr zu verbessern, ebenso ist die Technik für Untertitel auf Leinwand in neue digitale Projektoren in Kinos bereits eingebaut. Einem optionalen barrierefreien Erlebnis für alle steht nichts im Weg: Die Kinos müssen sprichwörtlich nur einen Schalter betätigen. Theoretisch wäre es auch kein Problem, deutsche Synchronisationen mit deutschen Untertiteln laufen zu lassen. So wäre es ein Leichtes, fixe Tage einzurichten, an denen einfach alle Vorführungen Untertitel haben, wie es in Großbritannien etwa Usus ist – fixe Zeiten, auf die man sich verlassen kann. Auch keine optimale Lösung, aber ein Schritt in die richtige Richtung.

Wille Felix Zante ist freier Autor und Berater, zurzeit als Referent für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit beim Deutschen Gehörlosen-Bund angestellt. Er studierte in Hamburg Gebärdensprachen und Amerikanistik und ist selbst taub. Er war für die Festivals „Look & Roll“ und das Filmfest Dresden als Berater tätig und in der Erstellung von Untertiteln aktiv.

Dieser Artikel erschien zuerst in der März-Printausgabe der absatzwirtschaft.