Ein Gastbeitrag von Astrid Kahmke, Initiative Virtual und Augmented Reality im Bundesverband Digitale Wirtschaft (BVDW)
Film kann technisch gesehen nicht interaktiv sein, wohl aber gibt es Lösungen, die eine versteckte Navigation wie ein subtiles „editing tool“ nutzen. 360-Grad-Filme kann man im Netz (WebVR) zum Beispiel auf Facebook und Youtube ansehen, oder aber über eine App mit dem Smartphone und entsprechender Brille, zum Beispiel Samsung GearVR erleben. 360-Grad-Film ist meist linear erzählt und folgt klassischen Erzählmustern. Der User bleibt relativ passiv in der Beobachterrolle, trotzdem können diese Experiences höchst immersiv wirken, zum Beispiel bei einer Reise in ein schwarzes Loch, an einen spektakulären Tauchspot oder an der Seite von Rangers in die Serengeti.
Alle Sinne werden angesprochen
Unvergleichlich größer ist allerdings das Gefühl der Immersion, wenn Sie computergenerierte Welten bauen, die Interaktion und Bewegung beim User zulassen. Neben Sehen und Hören können jetzt auch weitere Sinne mit einbezogen werden, wie zum Beispiel Haptik. Deshalb spreche ich hier von sensorischen Narrativen. Dafür braucht man dann eine HTC Vive oder Oculus, einen leistungsstarken Computer, Trackingtechnologie, Controller, gegebenenfalls weitere Devices und – ein bisschen Platz im Wohnzimmer.
In VR betritt der User buchstäblich die virtuelle Welt, er kann interagieren, die Umgebung verändern, wird Teil der Erzählung. Vielleicht sieht er jetzt wie eine Libelle, wächst zum Baum im tropischen Regenwald oder erlebt eine Raumstation inklusive gefühlte Schwerelosigkeit. Das macht VR so außergewöhnlich: Man kann Superkräfte verleihen, völlig neue Perspektiven eröffnen oder Kreativität wecken. Und dabei ist das Erleben „als wäre man wirklich dort“ um ein Vielfaches intensiver als bei konventionellen Medien.
Der Nukleus einer Geschichte
Kann man bei einem 360-Grad-Film in der Regel von einer Story sprechen, hat sich für VR von Anfang an „Experience“ etabliert. Eine Geschichte ist eine Erfahrung, die ein Erzähler einem Rezipienten mit einer bestimmten Perspektive und Haltung weitergibt. Der Erzähler möchte den Zuhörer fesseln, unterhalten, mitunter will er auch eine Reaktion provozieren. Um eine Geschichte interessant zu gestalten, braucht es Struktur, Spannungselemente und starke Figuren. Eine Erfahrung ist der Nukleus einer Geschichte, Storytelling die Kunst, hieraus eine Erzählung zu formen.
In VR steht nicht der Erzähler, sondern der User im Mittelpunkt. Was soll er erfahren und wie soll er in die Realität zurückkehren, vielleicht sogar handeln? Das ist ein evolutionärer Schritt von Storytelling zu Story World Building, von einer linearen, zeitbasierten Geschichte hin zu einer non-linearen, räumlichen Erzählwelt, die auch interaktiv und sensorisch erlebt werden kann. Jessica Brillhart von Google sagt es so: „Ich möchte eine Welt gestalten, in der jemand seine Geschichte entdecken kann.“
Für viele Storyteller bedeutet das Kontrollverlust, für Kommunikationsprofis ist es ein Home-run. Denn gerade sie versetzen sich in ihre Zielgruppen, immer User Experience und Audience Engagement im Blick. Für das Entwickeln einer Experience in VR ist diese Haltung ein klarer Vorteil.
Zwar ist die Reichweite von 360-Grad-Film (noch) erheblich größer als die der vergleichsweise teuren VR-Brillen, aber beide Technologien haben ihre Vor- und Nachteile. Und auch wenn vieles noch im Fluss ist – Visionäre an der Spitze der Innovation beschäftigen sich jetzt intensiv mit räumlichen Erzählwelten.
Über die Autorin: Astrid Kahmke ist Creative Director des Bayerischen Filmzentrums. Sie leitet das erste europäische „xR Creators‘ ‚Lab“ für kreative VR-Entwickler und ist Dozentin für Content Development.