Virtual Reality in der Gesellschaft: Spielerische Hardware, ernster Auftrag

Während in der öffentlichen Diskussion noch die Anwendungsszenarien Gaming oder Social Media im Vordergrund stehen, hat Virtual Reality in der Medizin längst ihren Platz gefunden. Und nicht nur dort
Virtual Reality oder Augmented Reality. Der neue Hype und was dahinter steckt

Der Start von Ready Player One ist auf 2018 verschoben. Die VR-Enthusiasten müssen sich noch länger gedulden, bis ihr Science Fiction Epos in die Kinosäle kommt. Produzent Steven Spielberg ließ verlauten, er wolle dem für 2017 angekündigten Erscheinen von Star Wars 8 aus dem Weg gehen. Ready Player One von Ernest Cline ist das Kultbuch der VR-Gemeinde. 2010 erschienen erzählt es die Geschichte vom Teenager Wade Watts, der im Jahr 2044 auszieht, um die Welt zu retten. DIE Welt gibt es in Clines Fiktion eigentlich gar nicht. Es ist vielmehr eine Welt von vielen, untergebracht in einem Universum von vielen und strukturiert in einem Metauniversum. Wenn Wade in die Schule geht, dann tut er das virtuell per Headset und Datenhandschuh. Sein Weltrettungsversuch gründet sich vor allem darauf, dass er gut Computerspielen kann.

Das Spannende an Clines Buch ist die Konsequenz, mit der er den Gedanken der Virtuellen Realität fortschreibt. Er entwirft ständig neue, phantasievolle Schnittstellen zwischen der realen und virtuellen Welt und erzeugt plausible Zusammenhänge. Getragen wird das Buch aber vor allem durch eine spannende Abenteuergeschichte, durch Freundschaften, Liebe und Action. Die Technologie ist nicht mehr als konstituierende Rahmenbedingung. Wer wissen will, warum Mark Zuckerberg Oculus gekauft hat, findet dort die Antwort. Die virtuellen Welten sind nicht weniger sozial als die reale.

VR in der Unterhaltung

Google hat soeben Zahlen veröffentlicht, die die Nutzung der VR-Light-Lösung CardBoard betreffen. Fünf Millionen Pappschachteln habe man verkauft, die meisten davon über Partner wie zum Beispiel die New York Times. Eine Million Pappschachteln verteilte das ehrwürdige Blatt im November an treue Abonnenten. 25 Millionen App-Downloads hat es gegeben, davon zehn Millionen allein in den letzten beiden Monaten des letzten Jahres. Ein Zeichen für die Erhitzung des Marktes. Was aber besonders spannend und vor allem überraschend ist, ist die Auswahl der erfolgreichsten Apps. Auf den Plätzen eins, drei, vier und fünf landen erwartungsgemäß Spiele. Das meistgespielte Game ist „Chair in a room“. Doch auf Platz zwei landet VRSE, eine Player-App, die dazu gedacht ist VR-Filme abzuspielen. VRSE ist eine VR-Produktionsfirma mit Sitz in Los Angeles und New York.

In der App laufen bislang vor allem künstlerische und dokumentarische Werke unterschiedlicher Autoren. Spektakulär ist der virtuelle New York Rundgang zur Produktion eines Titelbilds der New York Times. Aber es gibt auch einen Horrortrip in ein virtuelles Irrenhaus, eine Dokumentation über Flüchtlingskinder oder Musikvideos mit U2. Allesamt Inhalte, die man nicht unmittelbar mit dem Gaming-Stigma von VR zusammen bringt.

Vorreiter New York Times

Die New York Times ist Vorreiter im journalistischen Segment. Im Oktober 2015 gab man den Aufbau einer ganzen Abteilung mit dem Produktionsziel VR bekannt. Man erwarte sich signifikante Erlössteigerungen im Videosegment durch VR, so die Pressemitteilung. Tatsächlich hat der bislang einzigartige Inhalt, gepaart mit dem sehr konzentrierten Nutzungserlebnis eine spannende Qualität in Sachen Werbewirkung. Mitte Februar zog die Presseagentur Associated Press nach und gab eine VR-Kooperation mit Chiphersteller AMD bekannt. Neben den Journalisten experimentieren allerhand Filmstudios mit der neuen Technik. Es ist interessant zu beobachten, dass sie ihr Handwerk neu lernen müssen. Da der Zuseher durch VR zum Teil der Handlung wird, sind schnelle Schnitte, rasante Kamerafahrten und kuriose Betrachtungspositionen schwierig einzusetzen, wenn nicht gar verboten. Die Kunstfilme Colosse und Surge versuchen das Genre auszureizen. Colosse ist keine lineare Geschichte sondern ein Entdeckungsfilm. Die Bewegung des Nutzers erzählt die Geschichte. Und Surge schafft eine künstlerische Musikcollage die natürlich mehr kann als die Realität. Der Kurzfilm Henry, der direkt aus den Oculus-Studios kommt, zeigt unterdessen eine Pixar-ähnliche Realisierung mit einem Igel im Mittelpunkt. Kein Wunder, denn der Creative Director ist Saschka Unseld und der arbeitete für Disney schon an Toy Story und Cars mit.

Spricht man von Unterhaltung, dann ist natürlich auch der Sport nicht weit. Die Amerikaner kamen bereits in den Genuss eines Live-Basketballspiels in VR, das gänzlich neue Perspektiven für den Zuschauer ermöglicht. Im Dezember 2015 standen sich dann Daniel Jacobs und Peter Quillin im Boxring gegenüber. Der virtuelle Zuschauer konnte den KO in der ersten Runde aus nächster Nähe begutachten. Ein gefundenes Fressen für PayTV-Anbieter wie Sky. Übrigens: Google zeigte auf YouTube im Dezember unter dem Namen Virtual Exhibitions auch bereits VR-Ausflüge in den Orchestergraben im Rahmen eines Klassikkonzerts und auf die Bühne während eines Shakespearestücks.

VR in der Medizin

Während die Unterhaltungsbranche sich noch im Experimentierstadium befindet, ist in der Medizin das Thema Virtual Reality längst angekommen. Die Simulation von realitätsnahen Umgebungen und Situationen kann gleich zwei Zwecke erfüllen. Offensichtlich ist das Thema Simulation im Trainingssegment. Herzchirurgen lernen am digitalen Herzen risikoärmer als am realen Pendant. Gleiches gilt natürlich für Piloten. Am Fraunhofer Institut in Rostock forscht man zur virtuellen Simulation der Evakuierung von Schiffen.

Und auch in der Augenheilkunde hat VR schon 2010 Einzug gefeiert. Das System „Eyesi Ophthalmoscope“ von VR Magic aus Mannheim dient dazu, Augenuntersuchungen und die anschließende Diagnose zu simulieren und vom Ausbilder bewerten zu lassen. Das zweite Anwendungsfeld in der Medizin ist psychologischer Natur. Vermutlich ist Snowy VR die anrührendste Form des Einsatzes der innovativen Technik. Snowy VR simuliert eine Schneelandschaft mit Eisbären, Iglus und viel Schnee. Es ist ein Spiel, in das der Spieler dank VR tief eintaucht. Uns dabei vergisst er, dass er schwer verletzt ist und gerade einer schwierigen Behandlung unterzogen wird. Der Spieler, das ist ein Brandopfer mit starken Verbrennungen. Die Behandlung ist das extrem schmerzhafte Entfernen der alten Haut über den Brandwunden vor der Transplantation. „Es gibt auch andere Systeme der Ablenkung“, sagt der Howard Rose Präsident und Mitgründer der Entwicklerfirma Firsthand, “aber keines ist so effektiv wie VR. Wir können sogar Schmerzmittel sparen.“

Eine Achterbahnsimulation

Firsthand arbeitet an weiteren Schmerztherapien mit der Hilfe Virtueller Realität, schon weiter ist man allerdings in der Behandlung diverser Phobien, von Flugangst bis Spinnenphobie. Die jeweilige VR-Anwendung simuliert den Kontakt mit dem Ungeziefer und steigert über die Zeit die Dosis. Selbst eine Simulation gegen Bulimie ist in Erprobung. Den Kontakt mit Traumata stellen auch die Apps IraqWorld oder Bravemind her. Sie simulieren Kriegssituationen und konfrontieren Veteranen mit ihrer schrecklichen Vergangenheit. „Ich konnte Jahre lang nicht über das Erlebte sprechen“, berichtet ein US-Veteran dem Magazin Wired. „Als ich die Bilder sah, begann mein Gehirn das Fehlende zu ergänzen und ich erzählte meinem Arzt davon“.

Wer einmal erlebt hat, wie real das flaue Gefühl im Magen bei einer Achterbahnsimulation ist, dem wird schnell klar, dass VR auch das Zeug hat, heilende Wirkung auf die Physiologie des Menschen ausüben zu können. Und genau das ist das bescheidene Ziel von Mind Maze aus Zürich. Es geht um Schlaganfallpatienten. Zunächst entwickelten die Eidgenossen ein VR-Training für die Rehabilitation, also für das neue Erlernen von Bewegungen auf der gelähmten Seite. Der Clou des Systems liegt aber in einem Trick. Durch eine geschickte Spiegelung wird dem Gehirn vorgegaukelt, dass sich der gelähmte Arm bewegen lässt, sobald das Gehirn entsprechende Impulse gibt. Dabei bewegt sich der Arm gar nicht. Der vermeintliche Erfolg fördert – so sagt Mind Maze – die Bilfung neuer neuronaler Verknüpfungen und führt und zu einer merklichen Beschleunigung der Rehaphase.

Fazit

Es gibt keinen Zweifel: VR hat das Zeug dazu, einiges in unserem Leben und in der Gesellschaft zu ändern. Ob es die VR-Nachrichtengeschichte ist oder doch eher virtuelle Vorlesungen an Hochschulen wird die Zeit zeigen. Absehbar ist allerdings schon jetzt, dass VR nicht nur Information und Unterhaltung kann, sondern VR kann eben auch Soziales. Natürlich nicht als Ersatz für reale Kontakte, aber als Ergänzung, etwa bei Menschen, die an anderen Orten weilen oder für jede Form der Guided Tour, sei es beim Einkaufsbummel oder beim Erkunden einer Sehenswürdigkeit bei der Reisevorbereitung. Mit Verve stürzt sich derzeit die Erotikbranche auf das Thema. Vom virtuellen Striptease, der aus allen Perspektiven betrachtet werden kann bis hin zur unmittelbaren Interaktion mit realen und virtuellen Partnern ist bereits alles verfügbar. Nur die Hardware ist für letzteren Anwendungsfall noch etwas unromantisch. Aber das ist nur eine Frage der Zeit.