Gendern ist aktuell noch sehr umstritten, wird häufig als eine Verschandelung der Sprache wahrgenommen, als nervig, sinnlos oder übertrieben. Das Rheingold Institut hat deshalb in Kooperation mit der Agentur Castenow eine qualitative tiefenpsychologische (n=46, : je 50 Prozent Frauen/Männer, Alter: 14-35 Jahre) sowie eine quantitativ repräsentative Studie (n=2000, Geschlecht: je 50 Prozent Frauen/Männer, Alter: 16-35 Jahre) durchgeführt, die sich der Polarisierung rund ums Gendern widmet.
Die Studie brachte zum Gendern unter anderem die folgenden drei Ergebnisse zutage:
- 54 Prozent der Befragten lehnen die Genderdebatte eher ab und fühlen sich zum Teil auch stark „genervt“ oder provoziert.
- Auf der anderen Seite erachten 44 Prozent der Befragten die Diskussion als (eher) wichtig und gerechtfertigt.
- Vor allem 54 Prozent der jüngeren Frauen bewerten die Sinnhaftigkeit der Debatte besonders hoch.
Gendern als Beitrag zu einem wachsenden Bewusstsein
„Die Unterschiede in der Wahrnehmung zeigen deutlich, dass es jetzt besonders auf das richtige Maß und den richtigen Kontext ankommt“, sagt Studienleiterin Judith Barbolini. Es sei nicht sinnvoll, dass Gendern die gesellschaftlichen Gräben noch tiefer werden lasse. Zu Dissonanzen komme es eher, wenn das Gendern zu aggressiv und zu strikt durchgesetzt wird. Der Übergang zum Gendern als Beitrag zu einem wachsenden Bewusstsein für bessere Inklusion kann durch eine entspannte, auch humorvolle Haltung und flexible Umgangsformen erleichtert werden.
Im Rahmen der Studie wurden zudem vier verschiedene Hintergründe herausgearbeitet, die versuchen, die Aufregung und Polarisierung der Genderdebatte zu erklären:
1. Die Ansprüche auf Gleichberechtigung sind längst noch nicht erfüllt.
Die Studie zeigt laut den Autor*innen, dass der Blick auf das Geschlechterverständnis spürbar im Wandel ist. Zwar seien die klassischen Rollenbilder nach wie vor vorhanden. Allerdings würden sich in der Studie „überraschend“ nur 73 Prozent ganz klar dem männlichen oder weiblichen Geschlecht zuordnen, während sich 27 Prozent „dazwischen“ einordnen.
Darüber hinaus löse „die Wirklichkeit das Ideal einer gleichberechtigten Gesellschaft“ nicht ein. Nur drei Prozent der Frauen und elf Prozent der Männer sehen die volle Gleichberechtigung erreicht. 53 Prozent der Frauen (und 41 Prozent der Männer) sagen: „Es gibt wenig bis keine Gleichberechtigung“. 57 Prozent der Frauen fühlen sich mindestens „ab und zu“ als Frau im Alltag oder Berufsleben benachteiligt.
„Da Wirklichkeit und Ideal an dieser Stelle noch recht weit auseinanderklaffen, sorgt dies psychologisch für Unmut“, lautet das Fazit von Rheingold und Castenow.
2. verbreitete Unklarheit über Sinn und Bedeutung des Genderns
Ein weiteres Problem laut Studie: Vielen Befragten ist nicht klar, was das Gendern überhaupt bewirken soll beziehungsweise, wofür es steht. Der Hintergrund einer besseren sprachlichen Sichtbarmachung der Frauen werde oft nicht erkannt:
- Nur 36 Prozent aller Befragten glauben, dass das Gendern Frauen in der Sprache stärker berücksichtigt und für mehr Gleichstellung sorgen soll.
- Mehr als 50 Prozent denken, dass mit Gendern Neutralität zwischen allen Geschlechtern geschaffen werden soll.
- 33 Prozent sehen im Gendern eine Inklusion von Menschen jenseits von Mann und Frau und 20 Prozent sehen das Gendern als einen Ausdruck von Feminismus.
3. Gendern wird zum Stellvertreterkrieg für gesellschaftliche Gaps.
Durch die Unklarheit über die Bedeutung werde das Gendern laut Rheingold und Castenow „oft zur Chiffre für allgemeine gesellschaftliche Missstände“. Dadurch entstehe über das Gendern „ein Stellvertreterkrieg gegen verschiedenste Gaps und Versäumnisse unserer Gesellschaft“: von fehlender Integration des Weiblichen, mangelnder Diversität, dem Gender Pay Gap bis hin zur mangelhaften Integration von Geflüchteten und dem Problem des Rassismus.
4. Die wachsende Sehnsucht nach verbindendem Miteinander wird durch die „Stolperfalle“ Gendern paradoxerweise erfüllt und verletzt.
In einer zunehmend auseinanderdriftenden Gesellschaft wächst laut den Studien-Autor*innen die „Sehnsucht nach einem besseren Miteinander, nach Inklusion und Toleranz“. Psychologisch betrachtet könne diese Sehnsucht durch das Gendern paradoxerweise ebenso bedient als konterkariert werden.
Vor allem die Pause, die durch das Gendern im Sprachfluss erlebt wird, „ist wie ein holpriges, abruptes Loch“ (Interview-Zitat), das irgendwann vom Inhalt wegbringt und ablenkt. Dieses Loch werde häufig wie eine sprachliche „Stolperfalle“ beschrieben, die jedoch ganz unterschiedlich wahrgenommen würde: Die einen sehen sie als Behinderung im Sprachfluss, die das Trennende eher verstärkt als aufhebt: „Durch die Gendersprache wird der Unterschied zwischen Männern und Frauen viel mehr dargestellt, das wird krasser auseinanderdividiert, das soll es doch gerade nicht“.
Die anderen ‑ insbesondere die jüngere Generation ‑ sehen das Gendern laut Studie „als ein Zeichen für Toleranz und Modernität“. Die Stolperfalle sei für sie „eine freundliche Erinnerung, die für ungelöste gesellschaftliche Probleme nicht nur in puncto Gleichberechtigung sensibilisiert“.