Sonne über der Spree, jeder zweite Passant hält eine Flasche Gerstensaft in der Hand – zumeist bayerischen – und verstohlen hinter Straßenecken lauern die Mannschaftswagen der Ordnungshüter. Es ist 1. Mai in Berlin Friedrichshain, die Stimmung ist frech, leicht provozierend aber nicht aggressiv. Entspannt und fröhlich stehen sich 2000 Teenager und deren fürsorglicher, elterlicher Anhang die Beine in den Bauch. Der Community Day ist der Auftakt zur diesjährigen Berlin WebWeek. Er gehört zum Show Day und gemeinsam bilden sie die Videodays, Europas größter Treffen von erfolgreichen YouTubern und deren Fans. 10 000 trafen sich letztes Jahr in Köln, 12 000 werden sich im August am Rhein versammeln und an die Spree schafften es 6000.
Der Riss im Medienuniversum
„Das ist gemessen an der Größe des Einzugsbereichs sogar mehr“, freut sich Videoday-Erfinder Christoph Krachten über den Erfolg des Erstlings. Und von diesem Erfolg kriegen Marketing- und Medienbranche wahrscheinlich nicht besonders viel mit. Eine Umfrage auf der Content Marketing Conference 2015 zeigte: Nur etwa ein Prozent der Besucher können mit den einschlägigen Starnamen wie Dner, BullshitTV oder AlexiBexi etwas anfangen. Es ist, als ziehe sich ein Riss durch das Medienuniversum. Hier die resignierten Windmühlenkämpfer der Klassik auf ihrem Kreuzzug gegen Google, dort die euphorisierten und so gar nicht Medienmüden Nachwuchskünstler und –rezipienten im Universum YouTube, bekanntlich einer Google-Tochter.
YouTuber und große Agenturen
Vor zwanzig Jahren hätte kein Medienschaffender oder Markenverantwortlicher gewagt, das Geschehen im Umfeld der Bravo nicht zu beachten, nur weil es den eigenen Interessen nicht entspricht. Heute scheint das anders. „Es hat sich schon einiges geändert im letzten Jahr“, meint Krachten. „Vor allem die Agenturen sind auf die YouTuber aufmerksam geworden“. Tatsächlich gibt es Kampagnen von Toyota, Coca Cola, Opel oder Saturn bei denen die YouTube-Stars mehr oder minder kreativ in Szene gesetzt werden. „Ferrero hat sich intensiv mit meinem Konzept beschäftigt“, analysierte YouTuber Alberto (1,3 Mio. Abonnenten) in Berlin. „Für die Kampagne zu Kinder Maxi King haben wir gemeinsam die Idee entwickelt“. Auf die YouTuber sind die Agenturen vielleicht aufmerksam geworden, auf die Videodays definitiv noch nicht. Canon wagt sich mit einem kleinen Stand aus der Deckung und präsentiert einen Cadillac zum Reinsitzen und fotografiert werden. Die Telekom gibt den Technologiepartner, hält sich aber ansonsten deutlich zurück. Außer dem „T“ auf der Eintrittskarte sind nur noch ein paar Transparente zu sehen. Und Adidas verteilt kleine Kopfhörerstecker und Postkarten auf denen Adidas Neo drauf steht. Das ist ziemlich dürftig und eine falsch verstandene Zurückhaltung. Es gab wohl selten eine „Community“, die weniger Berührungsängste mit der Werbeindustrie hatte.
300 YouTuber vor Ort
Jan Böhmermann und Friedrich Küppersbusch haben sich auf sie eingeschossen, auf die jungen, unverbrauchten Spaßmacher im Netz. Sie filmen sich beim Spielen von Videogames, sie geben Schminktipps, sie stellen sich sportlichen Aufgaben, die sich die Zuschauer ausdenken, oder sie machen einfach Musik und Comedy. Zu den Videodays haben sich 300 von ihnen am Berliner Badeschiff eingefunden. Sie sitzen einfach zwischen ihren Fans, plaudern, lassen sich fotografieren und nehmen herzlich in den Arm. Sie sind auch deshalb so erfolgreich – einige von ihnen versammeln mehrere Millionen Abonnenten hinter sich – weil sie so nah an den Fans sind. Reichweiten-technisch betrachtet sind einige von ihnen sogar erfolgreicher als Böhmermann – als Küppersbusch sowieso.
Der Tag neigt sich, es werden Liegestühle frei und noch immer stehen lange Schlangen vor den Autogramm-Boxen, wo die Lochi-Zwillinge und die Jungs von BullshitTV auch nach acht Stunden Arbeit noch lächelnd ihre Fans in den Arm nehmen. Sie empfinden es nicht als Arbeit sondern als anstrengenden aber coolen Spaß-Tag. Die Atmosphäre im Badeschiff wandelt sich von Jahrmarkt zu Beachclub. Entspannt und geordnet begibt man sich auf den Weg zur S-Bahn, obwohl 1. Mai ist und im benachbarten Kreuzberg die Sirenen heulen. Die Teenager fragen nach dem Grund. Sie sind nicht apolitisch, im Gegenteil: Populäre YouTuber wie LeFloid thematisieren auch das Weltgeschehen auf ihrem Kanal. „Das journalistische Potential ist gigantisch“, meint der ausgebildete Journalist Christoph Krachten. „Gerade die News-, Sport- und Wissenschaftskanäle verzeichnen enormes Wachstum“. Und bieten einen spannenden Werbekontext, möchte man ergänzen. Wer sich ein Bild von der Zukunft der Medien machen möchte, sollte sich ein Ticket für Köln sichern. Und wer risikofreudig ist, wagt sich mit einer Standfläche in die Lanxess-Arena und bietet den Teens etwas an, was den Tag bereichert. Das beginnt bei so einfachen Dingen wie Stiften oder T-Shirts für das Sammeln der Autogramme. Nur Mut, die YouTube-Community beißt nicht.