Auf den ersten Blick könnte man denken, Diversity und Customer Centricity schließen einander aus. Denn das eine lebt oft genug vom kleinsten gemeinsamen Nenner, der alle mitnimmt und jede und jeden gleichermaßen anspricht. Das andere braucht größtmögliche Individualität in der Kundenansprache. Die genderneutrale Maschinenstimme „Q“ ist für Ersteres ein gutes Beispiel. Sie ist weder männlich noch weiblich identifizierbar und soll genau so niemanden ausschließen. Das tut „Q“ auch nicht, nur leider trifft die Stimme genau so letztlich auch niemanden mehr wirklich ins Herz. Ganz schlecht für erfolgreiche Kommunikation, noch schlechter für erfolgreiche Customer Centricity.
Das findet auch Claudia Diaz, Geschäftsführerin der Berliner Agentur Ressourcenmangel und im GWA-Vorstand für das Ressort Diversity, Equity & Inclusion (DE&I) verantwortlich. „,Q‘ geht in die falsche Richtung“, sagt sie, „die Welt ist divers, so auch ihre Stimmen. Wir müssen nicht die Stimmen neutralisieren, sondern gegen die Stereotype bestimmter Stimmen ankämpfen.“ Wichtig sei es zudem nicht, alles unter einem Dach zu vereinen. Wichtig sei, Diversity und Customer Centricity gemeinsam zu denken. Das aber funktioniere nur, „wenn man sich die Mühe und Arbeit macht, für heterogene Zielgruppen auch heterogene Strategien zu entwickeln“, so Diaz.
Kampagnen werden immer diverser ausgerichtet
Ziemlich gut verstanden haben das die meisten Werbungtreibenden mittlerweile, wenn es um klassische Kommunikation geht. Kampagnen, Unternehmensauftritte und PR-Maßnahmen werden immer diverser auf einzelne Zielgruppen ausgerichtet. „Vor einem Jahr haben wir das mit unseren Kunden noch krass diskutiert“, erinnert sich Diaz. Heute sei bei den allermeisten die Erkenntnis gereift: „Wir können nicht nicht divers kommunizieren.“
Doch spätestens wenn es darum geht, Diversity bereits vor Beginn der eigentlichen Customer Journey mitzudenken, tun sich sehr viele Unternehmen nach wie vor schwer. Bei Produktinnovationen oder neuen Services und Designs lautet die Frage meist noch: Wen wollen wir ansprechen? Weitaus smarter wäre jedoch: Wie viele verschiedene Menschen können wir ansprechen?
Birgit Maier, Director Design & Design Research bei der Strategieberatung Diffferent, findet: „Aktuell schließen leider noch viele Unternehmen bewusst oder unbewusst Menschen aus.“ Doch sei es fraglich, wie lange Unternehmen es sich noch leisten könnten, ihre Produkte und Services nur für einen privilegierten, exklusiven Teil der Gesellschaft zu entwickeln. Zumal es gute Gegenbeispiele bereits gebe. Die „Inclusive Design Guidelines“ von Microsoft etwa würden gut illustrieren, „dass wir alle situativ, vorübergehend oder beispielsweise altersbedingt in unseren körperlichen und kognitiven Fähigkeiten beeinträchtigt sein können“. Inklusiv gestaltete Produkte und Services würden allen Nutzerinnen und Nutzern zugutekommen, so Maier.
Wer wachsen will, darf individuelle Kundengruppen nicht als Minderheiten ansehen.
Zamina Ahmad, Gründerin Shades & Contrast
User Diversity identifiziert neue Absatzmärkte
Ob im Gesundheits- und Hygienebereich, in den Finanz- und Hightech-Sektoren oder bei Markenartiklern und Touristikkonzernen – noch ist das Potenzial für neue diverse Absatzmärkte weitgehend ungenutzt. Dabei macht das wachsende Femtech-Segment, dessen Produkte ausschließlich auf den weiblichen Körper ausgerichtet sind – vom Menstruationstracker über Apps zur Messung der Fruchtbarkeit bis zur Unterstützung bei Brustkrebs –, vor, was möglich ist. Divers gedachte und gemachte Produkte sind längst nicht mehr nur eine ethische Pflicht, sondern können für erhebliches Wachstum sorgen.
Eine Frau, die sich damit sehr gut auskennt, ist Zamina Ahmad. Als Datenanalystin hat sie schon bei Otto und Moia gearbeitet, seit gut zwei Jahren ist sie als Beraterin tätig, vor einem Jahr hat sie dafür Shades & Contrast gegründet. „Früher haben wir in den Daten nach Gemeinsamkeiten der Zielgruppen gesucht, die wir dann bedienen konnten. Heute schauen wir nach den Unterschieden, um diese individuell anzusprechen“, sagt Ahmad. Sie nennt das „User Diversity“. Ein Begriff, der im englischsprachigen Raum schon seit ein paar Jahren populärer wird und die aktuelle Entwicklung tatsächlich gut beschreibt. Denn statt Personas, die im traditionellen Customer-Centricity-Denken nach wie vor auf die Gemeinsamkeiten bestimmter Zielgruppen fokussieren, geht es bei User Diversity um die Unterschiede der Menschen, um so neue Absatzmärkte zu identifizieren. „Personalisierte Kundenansprache will herausfinden, welche Jeans ich am liebsten trage. User Diversity will herausfinden, welche Menschen wir heute noch komplett ignorieren, weil wir ihre individuellen Bedürfnisse nicht kennen“, sagt Ahmad.
Auch Ressourcenmangel-Managerin Diaz kann der „User Diversity“-Idee einiges abgewinnen. Allerdings weniger in Abgrenzung zu Personas aus dem Marketing und der Marktforschung, sondern als Ergänzung zur Diversity-Debatte in der Kommunikationsarbeit. „Die Diversity-Bewegung war und ist ganz klar eine Bottom-up-Bewegung, in der Menschen von Politik und Wirtschaft ein Umdenken und neues Handeln einfordern“, so Diaz. User Diversity hingegen komme nun top-down hinzu, weil Unternehmen das Potenzial diverser Zielgruppen analysieren und nutzen.
Aktuell schließen leider noch viele Unternehmen bewusst oder unbewusst Menschen aus.
Birgit Maier Director Design & Design Research bei Diffferent
Die Welt braucht keine „One size fits all“-Produkte
Ein Lieblingsbeispiel von Beraterin Ahmad hierfür ist die Gamingindustrie. „Fast die Hälfte aller Gamer ist weiblich“, sagt sie. Doch die Spiele seien noch immer auf männliche Zielgruppen ausgerichtet – in Design, Sprache, Spielstrategie und leider auch in den oft genug hypersexualisierten Stereotypen. Erst allmählich erarbeitet die Gamingindustrie diversere Rollenfiguren für diversere Zielgruppen. „Das Wachstumspotenzial ist riesig und wird der Spieleindustrie in den nächsten Jahren ganz neue Absatzmärkte bescheren“, so Ahmad.
Ein weiteres Beispiel ist die Vorlesefunktion auf Websites. Ursprünglich eingeführt haben diese viele Unternehmen, um ihre Internetauftritte barrierefrei und für sehbeeinträchtigte Menschen leichter zugänglich zu machen. Schnell jedoch entdeckten auch andere Zielgruppen die Vorteile der Funktion und lassen sich beispielsweise beim Kochen die Rezepte oder beim Autofahren die Nachrichten vorlesen.
Dennoch geht es bei inklusiven Produkten gerade nicht darum, ein „One size fits all“-Produkt zu schaffen – wie das eingangs genannte Beispiel der Maschinenstimme „Q“ zeigt. Design für möglichst viele Menschen bedeutet nicht, ein Design für alle Menschen zu machen. Es bedeutet, vielfältige Möglichkeiten zu schaffen, damit möglichst vielfältige Menschen am Produkt teilhaben können. Die Lösung liegt also eher in individuellen Baukästen, um ein Kernprodukt an unterschiedlichste Bedürfnisse anzupassen. „Dann heißt mein Kernprodukt künftig nicht mehr Spaghetti bolognese“, sagt Ahmad. „Sondern es heißt Nudeln, und dazu biete ich verschiedene Soßen an.“
Bleibt die Frage, wie Unternehmen neue Absatzmärkte für diverse Zielgruppen finden können. Ahmad empfiehlt, in drei Schritten in die Tiefen der Datenanalyse einzusteigen: 1. Den Markt anschauen und klären, wohin bisherige Kundinnen und Kunden abwandern. 2. Klickzahlen analysieren, um herauszufinden, wer an welchem Punkt der Customer Journey abbricht. 3. Qualitatives Feedback auswerten und jede einzelne Meinung ernst nehmen. „Wer wachsen will, darf individuelle Kundengruppen nicht als Minderheiten ansehen“, sagt Beraterin Ahmad. Die Gesellschaft sei heute so stark individualisiert, dass nur noch eine Sichtweise die Richtung vorgeben kann: „Wir sind alle Minderheiten.“
3 Schritte für mehr User Diversity in der Datenanalyse
- Den Markt anschauen und klären, wohin bisherige Kundinnen und Kunden abwandern
- Klickzahlen analysieren, um herauszufinden, wer an welchem Punkt der Customer Journey abbricht
- Qualitatives Feedback auswerten und jede einzelne Meinung ernst nehmen