Die Unmöglichkeit der Prognose akzeptieren
Immer wieder finden sich Momente in der Geschichte, auf die wir nicht vorbereitet sind. Diese seltenen, höchst unwahrscheinlichen Ereignisse, die „Schwarzen Schwäne“ der Geschichte sind nicht prognostizierbar – auch wenn es eine zutiefst menschliche Eigenschaft ist, im Nachhinein einfache Erklärungen zu suchen.
Einbußen im Bruttoinlandsprodukt sind unvermeidlich – fast 30 Prozent nennt die OECD, andere Zahlen gehen von 2,8 bis 25 Prozent aus. Nicht nur der Chairman der Federal Reserve, Jerome Powell, muss jetzt eingestehen, dass keiner weiß, was kommt. Er sagte der „New York Times“: „Die wirtschaftliche Perspektive verändert sich täglich, und hängt komplett davon ab, wie das Virus sich verbreitet, welche Maßnahmen umgesetzt werden, und wie lange es dauert. Und das ist etwas, das nicht vorhersehbar ist.“
Schrittweise machen, was machbar und hilfreich ist
Es ist richtig, über die Chancen in der Krise zu sinnieren – und dazu auch motivierend, daran zu denken, dass nach der großen Pest die Renaissance kam mit einem Füllhorn von Innovation und Fortschritt. Dieses Ereignis ist zu allererst die Wiederkehr des Realen, das uns die Möglichkeit einer neuen, anderen Justierung eröffnet. Suffizienz statt unkontrolliertem Wachstum, Kooperation statt Konkurrenz. Auch im Marketing, das sein eigenes Spiegelbild oft fetischistisch angebetet hat.
Nur: Im Moment und für dieses Jahr sind wir finanziell zerbrechlich wie selten zuvor – und deshalb eher im „Überlebens-Modus“, mit der Perspektive auf bleibende und eher zunehmende Unsicherheit. Erst im weiteren Zeitverlauf wird diese Verunsicherung stärker von Neuordnung, von Renaissance und „Re-Invention“ geprägt sein. Eine Phase, die dann zur neuen Normalität führt – mit neuen Spielregeln. Diese Phasen sind typisch in der Krisenbewältigung, Trauerarbeit oder Veränderungsprozessen und fast unabhängig von Theorie und Modell. Einige Agenturen wie BBH oder Grabarz & Partner haben dazu bereits Präsentationen veröffentlicht, die mit Szenarien und Beispielen inspirieren.
Gute Entscheidungen treffen im Jetzt
Im aktuellen Survival Modus zu handeln, heißt natürlich, mit allen Maßnahmen die Liquidität zu stützen. Darüber hinaus zählt aber die menschliche Perspektive, denn die aktuelle Verunsicherung gilt es jetzt und künftig mitzudenken.
- Hilft es den Menschen?
- Stärkt es die Beziehung?
- Ist es erstrebenswert und inspirierend?
Wenn wir das in Bezug auf Kunden, Mitarbeiter und Partner fragen, bleibt noch die Frage, wie es zu ihnen gelangt. Hier kommt die Krise als Beschleuniger der Digitalisierung ins Spiel – denn es wird vermehrt auf digitale Optionen gesetzt werden.
Alles ist Reaktion auf Bedürfnis und Verhalten
Die Krise beeinflusst, wie wir arbeiten, leben, reisen, kommunizieren. Und wie und was wir kaufen. Als Antwort auf #stayathome surfen wir laut einem aktuellen Appinio-Report mehr im Internet, sehen mehr fern, telefonieren, chatten und streamen mehr. Aber lesen auch mehr, treiben zuhause Sport oder gehen spazieren. Alles Wege, um auch mit wachsenden Ängsten umzugehen, die in den ersten Krisenwochen zugenommen haben – Ängsten vor persönlich-finanziellen oder gesamtwirtschaftlichen Folgen sowie davor, dass zum Beispiel Gastronomie und Kultur aussterben.
Positive Maßnahmen integrieren aktuelles Wissen – und nehmen Bezug auf ad hoc verändertes Verhalten und neue Gewohnheiten. Verändertes unternehmerisches Handeln ist damit vor allem eine Antwort auf menschliche Bedürfnisse.
Ein Marktforscher berichtete mir vom aktuellen Einkaufsverhalten – dass sich zum Beispiel jetzt Kilopackungen von Gummibärchen verkaufen, die sonst eher Ladenhüter sind. Große bekannte Marken schaffen dazu Orientierung und Sicherheit. Alles Fremde und Neue wird es aktuell schwer haben.
Auf der Bedürfnispyramide ging es für den Shopping-Hamster der vergangenen Wochen in erster Linie darum, einfachste physische Bedürfnisse zu sichern. Wir sehen aber, dass alle weiteren Ebenen schnell ebenso präsent sind. Dass in der Isolation zwischenmenschliche Kommunikation deutlich gewinnt. Dass glaubwürdige Nachrichten und Informationen auch mentale Sicherheit schaffen, Wissenschaft einen neuen Stellenwert bekommt. Dass Menschen gerade jetzt von Marken ein verändertes, gesellschaftlich verantwortungsvolles Verhalten erwarten.
Laut des „Edelman Trust Barometer“ sehen knapp zwei Drittel der Menschen ihre Kaufentscheidungen davon beeinflusst, dass Marken sich jetzt anders verhalten. Je nach Krisenphase unterschiedlich stark – 88 Prozent in China, 66 Prozent in Italien, 45 Prozent in Deutschland. Ganze 90 Prozent wünschen sich dazu, dass im Kampf gegen die Pandemie Unternehmen partnerschaftlich mit Regierungen und Institutionen zusammen agieren.
Gute Beispiele als Inspiration – nicht als Blaupause
Menschen suchen aktuell vor allem nach Verbindung, Produktivität, Möglichkeiten zu Lernen, das Wohlbefinden zu steigern, nach Zerstreuung und Unterhaltung und nach Nahrung die zur Situation passt. Der britische Kochbox-Lieferant „Mindful Chef“ verzeichnet aktuell täglich 2000 neue Kunden statt wie bisher 150, nicht nur die „Hello Fresh“-Aktie ist auf einem Höhenflug.
Wenn wir das Haus nicht verlassen können, gilt es, das Nest so gut wie möglich zu gestalten. Zahlreiche Maßnahmen zeigen, wie man mehr schafft als nur gute PR-Stunts.
- Stärkung von Produktivität und Verbindung – mit größeren Datengeschenken wie von Telekommunikationsanbietern an ihre Kunden
- kostenlose Information und Zerstreuung, wie die freien E-Paper von Gruner & Jahr oder unzählige Webinare zu Themen wie Mediation, Yoga, Homeoffice-Hacks oder Programmier-Skills
- Hilfreiche Services für gefährdete Personengruppen – wie Lieferservices oder gesonderte Shopping-Zeiten
- kollaborative Initiativen wie #kochenfürhelden, der gemeinschaftlichen Aktion von Spitzengastronomen für Krankenhäuser.
- Veränderungen in der Produktion – nicht nur LVMH hat von Parfum auf Desinfektionsmittel umgestellt, Bosch entwickelt einen Schnelltest, die Formel 1 produziert mit „Project Pitlane“, Atemgeräte
Jetzt und Morgen zusammen sehen
Die Sicherung der unternehmerischen Basis bedingt trotzdem, auch den weiteren Zeithorizont im Auge zu behalten. Es scheint ein wenig so, als ob wir unseren Blickfokus kontinuierlich wechseln müssen – mal auf „nah“, mal auf die „Distanz“. Nur so behalten wir die Zeitfenster und Phasen im Auge – und nutzen auch die positive Motivation, die von ihnen ausgeht. Dieses „Zoom in, zoom out“-Leadership, wie es Deloitte nett, ist eine Qualität, die wir jetzt entwickeln können.
Wir werden dabei auch Entscheidungen treffen müssen, die das Paradigma „Wachstum vs. Fortschritt“ lösen. Bleiben wir im alten Denken, indem sich vieles um mehr Geschwindigkeit und Wachstum dreht – oder entscheiden wir uns für inkrementellen Fortschritt in unserer vernetzten Welt, der anderen Kennzahlen folgt? Eine Entscheidung, die beinhaltet, neues Denken, Arbeiten und Handeln zuzulassen.
Anfreunden mit der Unsicherheit
Statt wie von Ray Kurzweil prognostiziert in naher Zukunft die Singularität, die Vorherrschaft künstlicher Intelligenz zu erleben, wird es vorläufig ein hohes Maß an Parallelität in den Szenarien und Entwicklungen geben. In dieser Phase der Liminalität, dem Schwellenzustand zwischen alt und neu, entsteht ein Raum, der von uns in seiner Mehrdeutigkeit einiges abverlangt. Alte Strukturen verschwinden und neue sind erst im Entstehen – wir müssen kontinuierlich neu denken und adaptieren.
„Become comfortable with being uncomfortable“ ist ein Statement, das nicht nur den US Navy Seals zugesprochen wird. Es formuliert gut, was jetzt zählt.
Wir leben schon länger mit Verunsicherung und Uneindeutigkeit, die jetzt beschleunigt zu Tage tritt. Eine Art Stresstest in Realbedingungen. Diese Krise als Chance zur großen Transformation statt als „Great Depression“ zu sehen – das wird für viele erst möglich sein, wenn wir nicht mehr mittendrin stecken, sondern die ersten Meilen hinter uns liegen.
Wir können aus diesem Ereignis gestärkt hervorgehen – wirtschaftlich, gesellschaftlich und persönlich. Und zwar, indem sich unser System neu justiert und kontinuierlich anpasst. Oder wie es der Herausgeber des britischen Magazins „Dazed“, Jefferson Hack, in einem Interview mit „Digiday“ erneut formulierte: „We’re all making it up as we go along.“