Das Kassenbuch ist ein schmaler schwarzer Band. „Mit Gott!“ steht auf der Aufschlagseite, in schön geschwungener Handschrift und schwarzer Tinte. Akribisch sind die Einnahmen notiert, Tag für Tag, Monat für Monat, beginnend im Januar 1913. Aus Monatseinnahmen von 6775,58 Mark werden im Laufe der Jahre Tageseinnahmen von mehr als einer Billion Mark. Im Oktober 1923 war das, auf dem Höhepunkt der Hyperinflation. „Damals haben wir zweimal täglich den Lohn ausgezahlt“, weiß Florian Lipp.
Engagement in der Stadt zeigen
Willkommen im Kaufhaus Rid, gegründet 1840 und damit das wohl älteste noch operierende Kaufhaus Deutschlands. Es steht in Weilheim, einer properen Kreisstadt südlich von München, und wird in sechster Generation von Florian Lipp geführt, 49 Jahre, Betriebswirt. „Ich kenne unsere Bilanzen seit den 1920er-Jahren, es gab kein einziges Verlustjahr“, sagt er. Er arbeitet daran, dass es so bleibt, auch wenn die Zeiten schwierig sind.
Die niedrigen Renditen im Handel seien in Ordnung gewesen, solange die Umsätze stabil und die Kosten optimierbar waren, findet Lipp. „Für diese Art von Geschäftsmodell waren die letzten Jahre ein echtes Problem.“ Beweglich bleiben, das Sortiment immer wieder am aktuellen Bedarf ausrichten, das ist sein Erfolgsrezept. Das Kaufhauskonzept eröffne genau diese Spielräume, findet Lipp: „Es ist ein sehr resilientes Geschäftsmodell.“ Kundenorientierung und eine kluge Standortpolitik vorausgesetzt.
Wie Rid gibt es eine ganze Reihe Kaufhäuser in Deutschland, oft in Familienbesitz, die sich trotz aller Widrigkeiten behaupten. „Das sind regionale Institutionen“, sagt Stephan Kippes, Hochschulprofessor und Experte für Immobilien- und Stadtmarketing. „Wenn sie gut geführt werden, haben sie eine Chance.“ In einer traditionsbewussten Beamtenstadt wie Weilheim gehört das Einkaufen beim Rid für viele einfach dazu, das Kaufhaus wird geschätzt. Es muss sich die Wertschätzung aber auch verdienen: Lipp engagiert sich im Stadtmarketing, sponsert Kindergärten, lädt zu Modeschauen ein, veranstaltet Preisausschreiben. „Das wird erwartet“, weiß er.
Alles für den täglichen Gebrauch
Das Sortiment in dem 2 000 Quadratmeter großen Haus erstreckt sich über vier Etagen: ganz oben Wäsche, darunter Mode, im Erdgeschoss Strümpfe und Schnäppchen, im Tiefgeschoss die „Kaufhausetage“, wie Lipp sie nennt, also Schreib- und Spielwaren, Geschenkartikel, Haushalts- und Kurzwaren, Koffer. „Wir führen alles, was Sie täglich brauchen: Von A wie Aktenordner bis Z wie Zitruspresse.“ So steht es auf der Website. Aber ganz so stimmt es nicht. Lipp bleibt flexibel, gibt ab, was sich nicht rentiert, springt ein, wo andere aufgeben.
Als vor Jahren zwei Haushaltsfachgeschäfte schlossen, stockte Rid seine Bestände auf und ist heute der einzige stationäre Händler, bei dem die Weilheimer Messer prüfen und Bratpfannen in der Hand wiegen können. Wenn, wie kürzlich in Bad Tölz, der Store einer bekannten Modefirma dichtmacht, verhandelt er, um die Marke aufzunehmen. Umgekehrt führt Rid weder Schmuck noch Sportartikel, weil es dafür in Weilheim Fachgeschäfte gibt. „Kann alles mal anders werden“, sagt Lipp. Für einen Kaufmann mit über 180 Jahren Firmengeschichte im Rücken ist die Gegenwart stets eine Momentaufnahme.
Auf das Personal vertrauen
Rund 80 Mitarbeiter beschäftigt Lipp insgesamt, inklusive einer Dependance in Bad Tölz. Unterschiedliche Warengruppen im Auge behalten, Messen besuchen, mit Lieferanten verhandeln – das bindet Ressourcen. Lipps Lösung: eine Balance zwischen Standard und Individualisierung. Bei Schreibwaren etwa bezieht das Kaufhaus vom Einkaufsverbund EK ein Basisangebot und ergänzt Produkte, die lokal gefragt sind.
So wie der Zeichenblock, den Lipp aus dem Regal zieht: „Eine Lehrerin in Weilheim besteht auf diesem Papier.“ Für Spielwaren hat Rid mit der Vedes-Gruppe ein ähnliches Modell entwickelt und vergangenen Juli die erste Systemfläche eingerichtet. Lokale „Sahnehäubchen“, wie Lipp das nennt, sind zum Beispiel ein Memory mit Weilheim-Motiven oder im Winter eine große Auswahl Schlitten.
Bei der Entscheidung darüber, was ins Sortiment passt und zu welchem Preis, vertraut der Chef dem Personal. Er zeigt auf eine Verkäuferin in der Haushaltsabteilung. „Sie redet jeden Tag mit den Kunden, sie hat ein Gefühl dafür, wo deren Schmerzgrenze für einen Dampfkochtopf liegt.“ Aufwendig Kundendaten auswerten, wie große Filialisten es tun – „dafür sind wir zu klein“. Und was, so fragt er, würde es ihm helfen, zu wissen, was die Kunden kauften, wenn ihn doch interessiere, wonach sie vergeblich suchten? „Das weiß dann wieder die Verkäuferin.“ Auch das ist Resilienz: die Fähigkeit, die eigenen Grenzen zu sehen und die Strategie konsequent auf Ertrag auszurichten.
In der Pandemie musste Lipp einen Frequenzzähler anschaffen, seither weiß er, dass durchschnittlich 300 Kunden am Tag sein Kaufhaus betreten. Es waren mal mehr, das ist ihm auch ohne Zähler klar. Aber: „Damals haben wir auch Zahnpasta und Zeitungen verkauft, heute führen wir höherwertige Ware. Dadurch blieben die Umsätze stabil.“
Sich anpassen, was auch immer kommt
Einen Onlineshop gibt es auch, aufgesetzt während der Pandemie, „innerhalb von zehn Tagen“. Der Umsatz allerdings bleibt gering. Das hat ihn in seiner Haltung bestätigt: „Die Antwort auf den Onlinehandel liegt für uns nicht im Onlinehandel.“ Lieber konzentriert er sich auf das, was die Familie seit jeher am besten kann: das stationäre Geschäft. „Es muss Spaß machen, bei uns einzukaufen.“ Was nicht bedeutet, dass das Internet unwichtig wäre. „Wir brauchen die Onlinepräsenz fürs Marketing.“
Es gibt, neuerdings, eine App samt Bonusprogramm, Präsenzen auf Instagram und auf Facebook. Mit den eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern als Models, die vor einer Wand im Treppenhaus posieren. Man kann eben auch aus wenig viel machen. Zum Überleben gehört aber auch: rechtzeitig einen Schlusspunkt setzen, wenn etwas nicht mehr funktioniert. In der benachbarten Arbeiterstadt Penzberg betrieb Lipp bis Januar einen Ableger, das Modehaus Rid2. Jetzt wird Woolworth übernehmen. In Weilheim hingegen will er aufrüsten, die Verkaufsflächen heller und moderner gestalten, mit einem energiesparenden Lichtkonzept.
Wie geht es weiter?
Auch Kooperationen mit benachbarten Gastronomen kann er sich vorstellen. Ein großer Vorteil ist, dass ihm die Immobilie gehört. „Das gibt einem Händler Planungssicherheit und mehr Spielraum, als wenn ihm ein Vermieter im Nacken sitzt“, sagt Experte Kippes. Da zahlt sich der Mut von Lipps Urgroßvater aus, der das Grundstück 1921 gekauft hatte. Zwei Jahre Hyperinflation genügten, um die Schulden im Gegenwert eines Knopfs abzutragen. So zumindest will es die Familiensaga. Mit der Inflation heute kann Lipp umgehen.
Lager aufstocken, Preisetiketten an den Regalen anbringen statt an den Produkten – „die Erfahrungen der Familie helfen schon“. Mehr Sorge bereiten ihm die Zusammenballung der Krisen, die steigenden Energiekosten, die Lieferprobleme und, immer noch, die Pandemie. „Von den Coronamaßnahmen waren wir brutal gebeutelt.“ Bisher halfen da staatliche Hilfsgelder. „Wie geht es weiter? Das ist schwer zu sagen.“ Er wird sich anpassen, was immer auch kommt.
Dieser Text erschien zuerst im Handelsjournal.